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Ein Urteil über die Geschichte, über das Recht

Aus der Stellungnahme des Bundesvorstandes der PDS zur Verurteilung von Egon Krenz, Günter Schabowski und Günther Kleiber

  • Lesedauer: 4 Min.

Zum ersten Mal in der modernen Geschichte Deutschlands ist das frühere Staatsoberhaupt eines deutschen Staates infolge seines Handelns als Träger staatlicher Hoheitsgewalt - und nicht wegen einer Privathandlung - von einem deutschen Gericht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden. Ein in Deutschland vorher nicht nur unbekannter, sondern unerhörter und unvorstellbarer Vorgang. Freilich hat er nichts zu tun mit jenen Kriegs- und Unmenschlichkeitsverbrechen, mit denen der Name Deutschlands im Gedächtnis der Völker wohl auf immer verbunden bleiben wird. Es geht vielmehr um ein früheres Staatsoberhaupt der DDR, deren staatsoffizielles Selbstverständnis sich gerade aus dem Widerstand gegen das nationalsozialistische Jahrhundertverbrechen speiste. Wir betrachten diesen Vorgang als eine gravierende politische Zäsur, deren schwerwiegende Folgen heute noch gar nicht vollständig ermessen werden können.

Die Zustände an der früheren Staatsgrenze, die zugleich eine Konfrontationslinie hochgerüsteter Militärblöcke war, hätte es - wie diese Grenze selbst - nie gegeben, wenn es das Dritte Reich und seinen Weltkrieg nicht gegeben hätte. (...)

Die PDS hat die Tatsache, daß der »eiserne Vorhang« Hunderte von Todesopfern forderte, nicht nur bedauert. Sie hat zugleich festgestellt, daß die Funktionärselite der DDR - neben den jeweiligen sowjetischen und Warschauer-Pakt-Führungen - politische Verantwortung dafür trug, daß dieses Agreement zur Aufteilung der europäischen Machtsphären bis zum Schluß zuallererst genutzt wurde, die Freiheit der Menschen im östlichen Teil der Nation unerträglich einzuschränken. Die sozialistische Idee und Bewegung wurden dadurch nachhaltig diskreditiert. Die PDS hat angesichts der politischen Mitverantwortung auch dieser drei Mitglieder der SED-Führung die ihr möglichen Konsequenzen gezogen und sie im Januar 1990 aus der Partei ausgeschlossen. Die selbsternannte »Avantgarde« hat, als die in Amt und Würden war, nicht den politischen Mut gefunden und die ernsthafte politische Verantwortlichkeit an den Tag gelegt, die sie heute vor Gericht für sich reklamiert. Ihr politisches Versagen und ihre selbstgefällige Gleichgültigkeit sind 1989 von den Menschen in der DDR bewußt auf ausschließlich politische Weise quittiert worden. (...)

Der Prozeß gegen Krenz u.a. hat erneut verdeutlicht, daß die bundesdeutsche Justiz die DDR-Gesetzeslage in den Horizont eines durch ganz andere Bedingungen geprägten Rechtsverständnisses rückt, um eine Verurteilung zu ermöglichen. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die bundesdeutsche Justiz dieses Rechtsverständnis und die damit verbundenen strafbegründenden juristischen Konstruktionen in Bezug auf die eigene bundesrepublikanische Rechtswirklichkeit bisher weder anerkannte noch praktizierte. Diese »Operation« verstößt gegen Völkerrecht, den Einigungsvertrag und untergräbt rechtsstaatliches Strafrecht. (...)

Juristische Argumentationsfiguren, die - weil bisher als rechtsstaatswidrig eingestuft - nicht zur Anwendung kommen durften, dienen nun zur Aburteilung »kommunistischer Schreibtischtäter«. Dieser juristische Paradigmenwechsel ist keineswegs Ausdruck einer endlich gewonnenen höheren Moral. Er bedeutet schlicht, daß östlich der Elbe andere Maßstäbe gelten als westlich der Elbe. Allein die Exponenten der FDGO sind - gleichgültig, was sie hoheitlich in der Vergangenheit getan haben (und in der Zukunft

tun werden) - bei formeller Gesetzeskonformität ihres Handelns durch ein streng formalisiertes Rückwirkungsverbot geschützt. Die Gleichheit der Rechtsunterworfenen ist verletzt und damit die Gerechtigkeit des Rechtsstaates, die Regelgerechtigkeit bedeutet. Damit hat sich die deutsche Justiz auf eine schiefe Ebene

zum kriminellen Totschläger zu erniedrigen, erniedrigt in Wirklichkeit das Recht. (...)

Vielen politisch denkenden, vormals staatsloyalen Ostdeutschen, die - bei aller Bereitschaft des selbstkritischen Umgangs mit ihrer Geschichte - auf der historischen Legitimität und juristischen Legalität ihres staatsbürgerlichen Tuns in der DDR bestehen, wird durch die justizielle Verfolgung der DDR-Repräsentanten und -Staatsdiener die endgültige Gewißheit vermittelt, sie hätten lieber der Gnade einer früheren Geburt teilhaftig und General der Waffen-SS oder Richter am Volksgerichtshof werden sollen, um ihre Biographien und ihre Würde in dieser Bundesrepublik nicht total in Frage gestellt zu sehen.(...)

Es gibt nur eine Antwort, die vor der Zukunft Bestand hat. Sie heißt Versöhnung. Andere Nationen haben es vorgemacht. Bis auf die PDS, die mit ihrem in den Bundestag eingebrachten Entwurf eines Strafverfolgungsbeendigungsgesetzes einen konstruktiven Beitrag geleistet hat, waren und sind die Parteien, die deutsche Regierung und die veröffentlichte Meinung nicht bereit, den Weg der Versöhnung zu gehen. (...)

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