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Neuigkeit des Tages

  • Lesedauer: 3 Min.

Was für die Angestellten der »Heimat-Nachrichten« längst ein alter Hut ist, wird für die Rotenburgerin Christa Schmidt zur Neuigkeit des Tages: »Was, der Schabowski hier von den >Heimat-Nachrichten< und der Schabowski, das ist ein und derselbe!? Also nee, da bin ich jetzt aber baff«. Frau Schmidt ist gerade auf dem Weg zur Behandlung in der hochmodernen Rodenberg Klinik. Die liegt oben auf dem Hügel in unmittelbarer Nachbarschaft der »Heimat-Nachrichten«.

»Wir sind unabhängig, eine unabhängige Wochenzeitung, steht doch oben drauf«, erklärt Sekretärin König leicht gereizt. Alleine die Tatsache, daß das Domizil des buntbebilderten Anzeigenblättchens mitten drin liegt in einem rund 300 000 Quadratmeter großen Klinikund Hotelkomplex, läßt diese Behauptung fragwürdig erscheinen. Sie ist falsch. Die »Heimat-Nachrichten« gehören Heinz Meise, dem Vorzeigeunternehmer der Region. Die Herzkreislauf-Kliniken auf dem Berg bieten zusammen mit einem Nobelhotel und dem integrierten Blättchen 1500 Arbeitsplätze und sind das Herzstück des waldhessischen Meise-Im-

periums, zu dem auch vier über die Gegend verteilte Fünf Sterne-Hotels (»Meirotels«) gehören. Lobenswerte Neuigkeiten über Manager Meise und Gattin Gudrun zieren denn auch in Text und Bild unentwegt die »Heimat-Nachrichten«, die zweimal wöchentlich in 68 000 Briefkästen landen. Kostenlos natürlich.

Heinz Meise kennt jedes Kind im 15 000 Einwohner-Städtchen Rotenburg. Der stille Schreiber Schabowski, dessen Name nur im Impressum zwischen »Hausmacher Wurstwaren aller Art« und »Wir wollen, daß Sie sicher leben, Ihre Polizei« auftaucht, gibt jedoch so manchem unten in der Stadt ein Rätsel auf. »Nein, der Name sagt mir jetzt nichts. Ja, wo Sie es sagen, ja der ist bei unseren >Heimat-Nachrichten<«. Birgit Jost, eine gepflegte Erscheinung um die Fünfzig, stützt ihren Arm auf den Latzhosenständer. Sie ist Verkäuferin im Kinderfach-

geschäft und kann mit dem Politbüroprozeß nicht viel anfangen. »In Hersfeld hat doch einer den Chef von der Sparkasse umgebracht, der hat nur fünf Jahre bekommen, da sind die Strafen für den Schabowski und den Krenz doch ein bißchen viel«, meint Frau Jost.

Definitiv ein bißchen zuviel sind 30 Grad im Schatten für nordhessische Gemüter. Die fachwerkbestückten und geraniendekorierten Gassen im ehemaligen Zonenrandgebiet zu Thüringen sind wie leergefegt an diesem Vormittag. Einer der wenigen Eiligen ist Gordon Protz, unterwegs für den ambulanten Pflegedienst: »Schabowski? Stasi!«, kommt es wie aus der Pistole geschossen. »Sitzt hier bei den >Heimat-Nachrichten<«. Den Prozeß beäugt der sommersprossige Zivi eher skeptisch. »Ich finde das problematisch, die zu verurteilen. Die Menschen müssen immer nach den Gesetzen handeln, die ge-

rade gelten. Und wer sagt eigentlich, daß unser System optimal ist?«

Der eine eilt, der andere ruht. Frührentner Karl-Heinz Barm sitzt auf der Bank um den Baum vor dem Rathaus. »Mit dem Namen kann ich nichts verbinden. Der ist doch nicht bei den Grünen?«, grinst er etwas verlegen. »Ist das net ein Schlagersänger?«, probiert seine Bekannte. »Ach so. Hmm. Daß die verurteilt werden, glaube ich nicht«, meint Barm. »Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Und der Krenz hat ja letztlich auch die Rolle für Moskau gespielt. Unsere Politiker sind auch nicht ohne. Da waren ja welche bei den Nazis«. Aber die Mauer hätte Barm gerne wieder »Dann wäre auch noch was in der Rentenkasse«.

Über so etwas macht sich der junge Verkäufer im Sportgeschäft noch keine Gedanken. Über den Politbüroprozeß schon gar nicht. Aber »Schabowski« sagt ihm was: »Das ist doch dieser Idiot aus der DDR«, kommt es cool. Und zögerlich: »Ich bin aus dem Grenzgebiet. Thüringen.« Nein, das sei alles vorbei für ihn. Er sei ja erst neun Jahre alt gewesen damals. »Muß nicht sein«.

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