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??a Firmen zeigen sich oft unwillig

Neues Gesetz bietet Betroffenen neue Möglichkeiten Von Friedrich Siekmeier, Bremen

  • Lesedauer: 4 Min.

Seit dem vergangenen Donnerstag müssen alle Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten schriftlich eine Analyse aller Arbeitsplätze vorliegen haben, aus der die Gefährdung für die Gesundheit der dort Arbeitenden ebenso hervorgeht wie eingeleitete Gegenmaßnahmen und deren Überprüfung.

Doch in der Praxis zeigen sich die Betriebe ebenso unwillig wie es schon die Bundesregierung bei der Umsetzung einer entsprechenden EU-Vorschrift in deutsches Recht war. Allein im kleinsten Bundesland Bremen gab es 1996 in Betrieben und Büros schätzungsweise 16 000 Unfälle, so jüngst Arbeitssenator Uwe Beckmeyer (SPD) vor der Presse. Doch nur von rund 7500 Unglücken erfuhr die zuständige Gewerbeaufsicht auch offiziell; dazu noch von knapp 1100 Fällen von Berufskrankheiten. »Gesundheits- und Arbeitsschutz werden wie Stiefkinder behandelt«, bemängelt Klaus Pickshaus, beim Hauptvorstand der Industriegewerkschaft Medien für diesen Bereich zuständig.

Das beginnt bei den gesetzlichen Grundlagen. Schon seit acht Jahren, seit dem Sommer 1989, liegt die sogenannte Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie der EU vor, die die Bundesregierung bis Ende 1992 in deutsches Recht hätte umsetzen müssen. Doch Bonn ließ sich bis zum Sommer 1996 Zeit, und dann übernahm die Koalitionsmehrheit auch nur einen Teil der EU-Vorschrift, wie der Arbeitsschutzfachmann beim IG-Metall-Vorstand Max Angermaier bemängelt. Er rechnet damit, daß es wegen der unzureichenden Umsetzung in den nächsten Jahren »immer wieder zu gerichtlichen Auseinandersetzungen bis hin zum Europäischen Gerichtshof« kommen wird. Überdies habe »der massive Widerstand der FDP sowie des Mittelstandes in der CDU/CSU« verhindert, das in viele Einzelgesetze zersplitterte Arbeitsschutzrecht zusammenzufassen, zu verbessern und für die betriebliche Praxis überschaubar und handhabbarer zu machen«. Herausgekommen sei im Sinne der Arbeitgeber ein »Minimalgesetz« allerdings mit einer Maximalfrist. Denn in ihrem »Arbeitsschutzgesetz« (ArbSchG) hat die Koalition eigenmächtig die Frist verlängert, bis zu der die von der EU-Richtlinie geforderten Dokumentationen über Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz und Maßnahmen zur Abhilfe und deren Kontrolle vorzulegen sind: Erst seit vergangenem Donnerstag

Schichtarbeit und Nachtarbeit sind in der EU eher Ausnahme. Nur 22 Millionen arbeiteten 1995 manchmal nachts, 18 Millionen in Schicht

trat der entsprechende Paragraph in Kraft. Doch selbst diese lange Frist nutzten viele Arbeitgeber nicht, sie kamen ihrer Pflicht »nur unzureichend« nach, wie der Bremer Arbeitssenator feststellte. Dabei geht es nicht um Paragraphenreiterei, sondern um kleine, aber wesentliche Fortschritte des neuen Gesetzes. Auch die deutsche Regelung konnte nicht die EU-Vorgabe umgehen, daß in Betrieben und Büros künftig die Gesundheit der Beschäftigten vorbeugend zu schützen ist und Gesundheitsgefahren »an ihrer Quelle zu bekämpfen« sind. Seit mehr als 125 Jahren galt vorher die Gewerbeordnung von 1869, die Arbeitgebern vorgab, Arbeitnehmer vor Gefahren für Leben und Gesundheit nur insoweit zu schützen, »wie es die Natur des Betriebes gestattet«. In Verbindung mit ei-

aus. Und es bietet Betriebs- und Personalräten erstmals unmittelbar Eingriffsmöglichkeiten für einen besseren Gesundheitsschutz, nämlich dank der seit Donnerstag vorgeschriebenen Dokumentationspflicht. Jeder Arbeitgeber muß für jeden einzelnen Arbeitsplatz schriftlich festhalten, welche Gefahren dem körperlichen und seelischen Wohlergehen der Beschäftigten drohen, was er “unternommen hat, diese Gefahren abzustellen und inwieweit er entsprechende Gegenmaßnahmen auch wieder überprüft hat. Dies gibt nicht nur jedem Arbeiter, Angestellten und Beamten die Möglichkeit, jederzeit den Gesundheitsschutz am eigenen Arbeitsplatz zu kontrollieren, und die Betriebs- und Personalräte können gegebenenfalls einschreiten. Oder sie können vorbeugend Betriebsvereinbarungen abschließen, in denen all diejenigen Punkte geregelt sind, die das Gesetz als möglicherweise gesundheitsgefährdend auflistet: Gestaltung von Arbeitsplätzen, Auswahl von Geräten und Maschinen, Gestaltung nicht nur von Arbeitsabläufen, sondern auch der Arbeitszeit(l), mangelhafte Qualifikation und Unterweisung von Beschäftigten. Die Kontrolle des Gesundheitsschutzes bleibt damit nicht mehr allein Stichprobenüberprüfungen der Gewerbeaufsicht überlassen, die wegen fehlenden Personals in den Ämtern eingeschränkt sind.

Mit einem Trick hat die Regierungskoalition allerdings den Geltungsbereich des Gesetzes eingeschränkt: Im Grundsatz gilt die Dokumentationspflicht für alle Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten. Doch mit ihrem »Gesetz zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung« hat die Koalition die Bruchrechnung bei der Ermittlung der Beschäftigtenzählen von Betrieben eingeführt: Teilzeitangestellte werden nur als 1/4-, 1/2oder 3/4-Menschen zugrunde gelegt. Folge: Gerade in Kleinbetrieben gilt dieser Absatz des Gesetzes nicht. »Angesichts der Tatsache, daß in Kleinbetrieben die Unfallrisiken überdurchschnittlich hoch liegen und gerade sie auch sicherheitstechnisch und arbeitsmedizinisch in vielen Fällen wesentlich schlechter betreut werden, ist das völlig unverständlich«, schimpft Gesundheitsschutzfachmann Angermaier.

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