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Eppler: Teile der SED wollten aus geistigem Ghetto ausbrechen

Die Risiken für den Osten waren weit größer als dessen möglicher Prestigegewinn Von Dr. Erhard Eppler, SPD

  • Lesedauer: 7 Min.

Erhard Eppler (70)

war von 1961 -1976 SPD-Bundestagsabgeordneter, 1968 -1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit; von 1973 - 1989 Mitglied des Präsidiums, von 1976-1991 Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD. Der in Ulm gebürtige Doktor der Philosphie engagiert sich als Christ stark in der Ökologie- und Friedensbewegung; Autor zahlreicher Bücher

Foto: dpa

IDer Anstoß zu den Grundsatzgesprä-? chen zwischen SPD und SED kam von der SED. Ein Professor der Philosophie aus Leipzig, der, wie ich heute weiß, seit längerem von der Stasi auf mich angesetzt war, fragte mich 1983, ob es nicht an der Zeit sei, sich auch über Fragen der Ideologie auszutauschen. Und er hatte auch klare Vorstellungen darüber, wer dies tun sollte: Auf Seiten der SED die Akademie für Gesellschaftswissenschaften, für die SPD die Grundwertekommission, deren Vorsitz ich seit acht Jahren innehatte.

Noch heute weiß ich nicht, was innerhalb der SED diesem Kontakt vorausging. Vielleicht bringt die unvermeidliche Diskussion zum Jahrestag des Streitpapiers hier neue Erkenntnisse. Sicher scheint mir nur: Die Idee wurde nicht im Dunstkreis Erich Mielkes ausgeheckt. Er begleitete die Gespräche und später ihr schriftliches Ergebnis mit Argwohn.

Meine erste Reaktion war Verwunderung: Hatten die Kommunisten bisher

Auf beiden Seiten nahmen meist zwischen acht und zwölf Personen teil, wobei übrigens die SED nie eine Frau delegierte.

nicht alle ideologischen Fragen säuberlich ausgeklammert, wenn über humanitäre, wirtschaftliche oder militärische Themen verhandelt wurde? Schließlich hatte die politische Theorie für die DDR ganz anderes'Gewicht als für die Bundesrepublik. Unsere Regierungen leiteten ihre Macht auf Zeit ab von einem freien Wählervotum, die SED gründete ihr zeitlich unbegrenztes - Machtmonopol auf ein Wahrheitsmonopol. Weil der Marxismus-Leninismus die Wahrheit sagte und weil nur die Kommunisten ihr Handeln daran orientierten, hatten sie das historische - Recht, all denen zu befehlen, die in der Unwahrheit verharrten. Daher gab es in der SED zwar Diskussionen über Details, über Fragen der Auslegung, der richtigen Anwendung der Wahrheit, nicht aber darüber, ob Marx und Lenin, wie andere bedeutende Köpfe auch, als Kinder ihrer Zeit und ihrer Umgebung nur einen geringen Teil der Wahrheit in den Blick bekommen hatten, ja, ob sie sich bei ihrer Geschichtskonstruktion in die Zukunft hinein nicht übernommen hatten.

HNun plötzlich waren die Kommuni-?sten bereit, sich ohne jede Vorbedingung von gleich zu gleich mit Leuten zu unterhalten, die ihre Wahrheit für einen vielleicht verständlichen, aber in seiner Wirkung fatalen Irrtum hielten. Die Risiken, welche die-SED dadurch einging, schienen mir weit größer zu sein als <lie Vorteile, die im Prestigegewinn liegen konnten. Aber ich hatte mir nicht den Kopf Honeckers zu zerbrechen. Die SED mußte wissen, was sie tat, und wenn sie es nicht mehr wußte, dann war das auch ihre Sache. Jedenfalls sah ich keinen zwingenden Grund, die Gespräche abzulehnen. Der einzige ernsthafte Einwand wäre gewesen: Man redet nicht mit Leuten, die unzählige Sozialdemokraten nur deshalb eingesperrt hatten, weil sie Sozialdemokraten waren und bleiben wollten. Aber dieses Argument hätte dann auch für viele Gespräche und Verhandlungen gegolten, die längst von Partei zu Partei im Gange waren. Im übrigen vermute ich, daß Teile der SED bestrebt waren, aus dem geistigen Ghetto auszubrechen, in das sie, nicht ohne eigene Schuld, geraten waren. Schließlich waren die ostdeutschen Kommunisten Europäer, ihr geistiger Ahnherr, Karl Marx, war in der deutschen, französischen, englischen Kultur gleichermaßen zu Hause gewesen.

Nun wollten sie zurück in die Diskussion des kulturellen Raumes, aus dem sie stammten. Was sollte ich dagegen haben? Ich fand dies sogar erfreulich, ja faszinierend, da ich schon um diese Zeit zu erkennen meinte, daß der Kommunismus als eigener, abgeschotteter Gegenwurf zum Westen das 20. Jahrhundert wohl nicht überleben würde, daß also die Re-Integration des Marxismus in die westliche Welt uns bevorstehen könnte.

Natürlich gibt es in der Politik nichts umsonst. Das mußte auch die SED-Führung wissen. Wer mit uns Sozialdemokraten ganz unverkrampft über seine ideologischen Prämissen reden konnte, der mußte dies früher oder später, eher früher als später, auch mit seinen eigenen Bürgern tun. Was sollte die SED solchen DDR-Bürgern antworten, die wissen wollten, warum ausgerechnet diese Sozis aus dem Westen das Privileg haben sollten, an den Marxismus-Leninismus kritische Fragen, ja ihn in Frage zu stellen?

Diese Meinung teilten alle meine kirchlichen Gesprächspartner Ich war in den achtziger Jahren wohl der einzige westdeutsche Politiker, der enge Kontakte zu den evangelischen Kirchen in der DDR und gleichzeitig einen ständigen Gesprächskontakt mit der SED hatte. So

konnte ich gegenüber Willy Brandt und im SPD-Präsidium darauf verweisen, daß viele in den DDR-Kirchen mich ermutigten, und später konnte ich immer testen, wie unsere Gespräche mit der SED bei denen aufgenommenn wurden, die unter dem Macht- und Wahrheitsmonopol der SED zu leiden hatten. Und ich konnte gegenüber den SED-Intellektuellen manchen Gedanken äußern, der aus Gesprächen am Rande regionaler Kirchentage entstanden war

mHier ist nicht der Ort, die Gespräche ?selbst im einzelnen zu schildern. Wir trafen uns jeweils für eineinhalb Tage, zuerst im Februar 1984 am Scharmützelsee, dann im Oktober 1984 in der Fritz-Erler-Akademie in Freudenstadt. Im Juni 1985 waren wir wieder in der Seenlandschaft Ostbrandenburgs, Ende Februar 1986 wieder im Schwarzwald. Auf beiden Seiten nahmen meist zwischen acht und zwölf Personen teil, wobei übrigens die SED nie eine Frau delegierte. Erich Hahn, Chefphilosoph der SED und wohl der aktivste Teilnehmer der anderen Seite, hat ausgerechnet, daß von der SPD insgesamt 15 Mitglieder der Grundwertekommission an den Gesprächen be-

teiligt waren, von der Akademie 28. Das zeigt, daß die SED je nach Thema immer wieder andere Sachverständige aufbot, während die Grundwertekommission nur auf die Terminkalender ihrer Mitglieder Rücksicht nahm. Von Hahn stammt auch die - wahrscheinlich korrekte - Angabe, daß während der insgesamt sieben Begegnungen etwa 80 Stunden lang im Plenum diskutiert wurde. Die Leitung lag abwechselnd bei Otto Reinhold und mir. Ursprünglich dachte niemand an Papiere. Wir empfanden es schon als ein beachtliches Zugeständnis der SED, daß, wohl vom vierten Gespräch an, einige Journalisten von beiden Seiten eingeladen werden konnten. Daß es zu dem gemeinsamen Papier kam, das bei der SED »das Dokument«, bei der SPD »das Streitpapier«, von rechten Polemikern »das Strategiepapier« genannt wurde, habe ich zu verantworten. Ich machte den Vorschlag dazu am Ende der spannendsten Gesprächsrunde Ende Februar 1986 in Freudenstadt. Die Kollegen von der SED waren angereist mit der druckfrischen Übersetzung der Rede Michail Gorbatschows vom XXVII. Parteitag der KPdSU. Da stand manches, was orthodoxe Kommunisten erschaudern lassen mußte.

yy Es traf sich gut, daß wir in diesen *? » «Tagen darüber streiten wollten, wie sich das Konzept gemeinsamer Sicherheit vereinbaren ließe mit den ideologischen Fronten, Dogmen und Vorurteilen. Gemeinsame Sicherheit sollte doch wohl bedeuten, daß jeder für die Sicherheit eines jeden anderen Mitverantwortung übernimmt. Das war offenkundig etwas anderes als jene von Lenin erfundene »friedliche Koexistenz«, die notgedrungen so lange gelten sollte, bis der Strom der Geschichte die todgeweihten »kapitalistischen« Gesellschaften vollends weggespült haben würde. Wir versuchten, den kommunistischen Kollegen klarzumachen, daß gemeinsame Sicherheit nur einen Sinn mache, wenn man dem jeweils anderen das Recht auf Existenz nicht abspreche und wenn man seine Friedensfähigkeit nicht in Zweifel ziehe. Beides tat die Imperialismus-Theorie. Gemeinsame Sicherheit konnten nur Staaten und Systeme suchen, die sich gegenseitig für friedensfähig hielten und sich mit der Existenz des anderen zumindest abgefunden hatten. Da dies beiden Seiten schwerfiel, der östlichen noch weit schwerer als der westlichen, mußten beide wohl auch darauf hoffen können, daß sich im anderen Lager durch innere Reform etwas ändere. Sie mußten sich also Reformfähigkeit zubilligen. Von der kommunistischen Seite des Tisches in Freudenstadt hörten wir zu solchen Überlegungen wenig Einspruch, obwohl die Imperialismustheorie, die sich immerhin auf Lenin berufen konnte, damit nicht vereinbar war. Im Gegenteil: Auch Rolf Reißig trug Thesen vor, die uns aufhorchen ließen. Am Ende des aufregenden Gesprächs fragte ich, ob es nicht hilfreich wäre, wenn, was wir gehört hatten, auch schwarz auf weiß zu lesen wäre. So entstand die Idee des Gemeinsamen Papiers. Mein Vorschlag war zuerst einmal als Test gemeint: Würden die Kommunisten zurückzucken, wenn es an die schriftliche Fixierung von Thesen ging, die am Fundament ihrer ideologischen Festung den Preßlufthammer ansetzten?

VDaß die Grundwertekommission ?Thomas Meyer bat, sich um den Entwurf zu kümmern, lag auf der Hand. Meyer war in der DDR zur Schule gegangen und wußte, worauf es ankam. Seine Duelle mit Erich Hahn waren immer Höhepunkte: Daß die andere Seite Rolf Reißig

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