nd-aktuell.de / 25.09.1997 / Politik

Aus dem Osten was Neues

Kathi Beier

Totgesagte leben länger 1996 galt Boris Jelzin zuerst politisch, dann gesundheitlich für fast gestorben. Trotzdem herrscht er im Moskauer Kreml wie ein Zar »Zar Boris und seine Erben. Kein Nachruf« lautet deshalb auch der Titel des im Wostok Verlag erschienenen Buches von Wladimir Ostrogorski. Ausgehend vom überraschend souveränen Sieg Jelzins bei den Präsidentschaftswahlen im Juli 1996 zeichnet Ostrogorski, freier Publizist und Korrespondent des internationalen russischen Radiosenders «Stimme Rußlands«, Aufstieg und Fall des mächtigen Boris Nikolajewitsch nach. Geboren 1931 in einer Bauernfamilie, die kurz darauf Opfer der Stalinschen »Entkulakisierung« wurde, wuchs Jelzin die ersten 20 Jahre seines Lebens in den Slums Uraler Industriestädte auf. Hier wurde im wesentlichen seine Mentalität

bestimmt. Er lernte, seine Belange hart zu verteidigen, gleichzeitig immer um die Achtung seiner Umwelt bemüht zu sein. Zum «Leistungsfanatiker« wurde er während seiner Studienjahre. Tagsüber trainierte er den Körper, nachts den Geist. Als Diplombauingenieur, der sich zusätzlich ein Jahr lang in allen gängigen Bauarbeiterberufen das Handwerk angeeignet hatte, wurde er ins Parteikomitee des Swerdlowsker Gebiets berufen. Mit der Übersiedlung nach Moskau, wo er unter Gorbatschow im Zentralen Parteikomitee eine Abteilung für das Bauwesen übernehmen sollte, begann sein «Weg zur Macht«, den der Autor aus persönlichen Erfahrungen kritisch unter die Lupe nimmt. Episoden im Buch: Geschichten vom Putsch im August 1991, Berichte zur Ablösung Gorbatschows und zur Auflösung der Sowjetunion, Hintergründe der Panzerattacke auf das Weiße Haus im Oktober 1993. Im Kapitel »Der Abstieg«, in dem Jelzins Vereinsamung und Entfremdung nach den Wahlen 1996 Thema

sind, läßt Ostrogorski zudem Rivalen des Präsidenten (der nun wieder beruhigt mit seinem Freund Helmut Kohl Saumagen-Essen gehen konnte) Revue passieren. Gennadi Sjuganow, Viktor Tschernomyrdin, Anatoli Tschubais, Alexander Lebed u.a. werden kurz vorgestellt. Ostrogorski räumt in seinem Buch mit einem Mythos auf und wagt einen Blick über die Ära Jelzins hinaus.

»Zar Boris und seine Erben. Kein Nachruf« erschien in der Sachbuchreihe des Verlages »Wostok«, die seit Ende 1996 besteht. Neben dem Sachbuchangebot, das bald mit Studien über den Totalitarismus ergänzt werden soll, wird seit diesem Jahr auch Belletristik publiziert. Erschienen sind bereits ein Band mit zwei Erzählungen des chantischen Autors Jeremej Aipin und Vera Kalaschnikowas Roman «Der kalte Quell Vergessen«.

Im Mittelpunkt der Verlagsarbeit steht allerdings die Zweimonatszeitschrift »Wostok«, die 1992 aus dem in West-

deutschland und West-Berlin herausgegebenen russischen Botschaftsblatt «Sowjetunion heute« entstand. »Informationen aus dem Osten für den Westen« will die Zeitschrift verbreiten. Hintergrundwissen, das einem interessierten deutschen Lesepublikum reale Einblicke in die Umbrüche und Reformen der GUS-Staaten geben soll, um deren Entwicklung zu verstehen. Mit Kontakten und Autoren in fast allen Staaten der ehemaligen Sowjetunion bemüht man sich um objektive Darstellungen in einem Themenspektrum, das von Politik und Wirtschaft bis zu Gesellschaft, Literatur und Reise-Specials reicht. »Wir wollen auf alle Fälle Informationen anbieten«, formuliert Geschäftsführer Peter Franke sein Anliegen, »und dann sollen sich die Leute dazu ihre Meinung bilden.«

Im Juli ist der Verlag aus Köln nach Berlin gekommen und hat sich nun am Prenzlauer Berg niedergelassen. Von der Stadt an der Spree erhofft man sich mehr Leser und Abonnenten. Die finden sich bis jetzt nämlich überwiegend in Westdeutschland.