Foto: Roger Melis
Fallada oder Goethes »Werther«. Auch in »Stein«, dem nach der Wende gedrehten großen Plädoyer für den schöpferischen Menschen, der sich gesellschaftlichen Zwängen nicht unterwirft, stand ein Künstler im Mittelpunkt.
Ihre erste Prosaarbeit erschien 1970: »Vorgeschichten oder Schöne Gegend Probstein«. Ihr Ton beim leisen beharrlichen Fragen nach dem Alltag einer Vergangenheit, die viele der älteren Generation ge'rne verdrängt hätten, ließ aufhorchen. Sie wollte sich erinnern - an noch so kleine Details, sie hatte ungewöhnliche Fragen, und sie klammerte historisch brisante Themen - die verlorene Heimat Schlesien und das Verhalten von Deutschen damals - nicht aus. Ihr geistiger
Helga Schütz sagte 1974 in einem Nachsatz zur Erzählung »Festbeleuchtung«: »Ich schreibe und setze damit Zeichen. Jedes erfundene Lebenszeichen enthält Fragen. Fragezeichen, die sich für mich plötzlich von den Fragen des Lebens unterm wirklichen Mond, unter wirklicher Sonne nicht mehr unterscheiden. Anlaß zum Schreiben: Den Fragezeichen folgen.« Noch prägnanter formulierte sie dann 1991: »Schreiben ist nicht irgendeinen Gestus annehmen, sondern seine eigene Wahrheit finden.«
Das klingt bestimmt und resolut, wogegen die Heldinnen ihrer Bücher eher sanft und leise sind. Sie suchen Heimat, Schutz, und entscheiden sich dennoch in wichtigen Lebenssituationen sehr konsequent - für das Solo, gegen den bequemen Wohlstand. Eben diese Entscheidung der Sanften macht für mich das Besondere der Prosa von Helga Schütz aus, und be-
stimmt ist dieses Markenzeichen mitgeprägt von ihrer Biographie, die bruchstückhaft in ihren Büchern aufblitzt. 1937 im schlesischen Falkenhain im Bober-Katzbachgebirge (»Schöne Gegend Probstein«!) geboren, kam sie 1944 siebenjährig nach Dresden (»Jette in Dresden«, 1977) und erlebte die Nachkriegszeit bei der Großmutter. Nach einer Gärtnerlehre besuchte sie die ABF und studierte dann von 1958-1962 an der Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg, Fachrichtung Dramaturgie.
Sie gehörte zu den ersten Absolventen und der neuen ambitionierten Generation von Filmemachern, die ihre Ideale und ihre Kritik, ihre Phantasie und ihre Erfahrungen, Genauigkeit und Können in ihre Geschichten einbringen wollten. »Wenn Du groß bist, lieber Adam« - das war beispielsweise ein Filmszenarium, das von einem zehnjährigen Jungen erzählt, der eine Taschenlampe mit einer besonderen Fähigkeit besitzt: Ihr Schein läßt jeden, der lügt, in die Luft schweben.
Vater und Sohn wollen diese wunderbare Lampe, die die Wahrheit durchsetzen wird, in Serie produzieren, doch es stellt sich heraus, daß niemand diese Lampe haben will. Ein poetischer Stoff mit einem großen Appell für die Wahrheit. Der Film, 1965 fertig, wurde bekanntlich Opfer des 11. Plenums, und erst 1990 konnten, die Schönheit, Leichtigkeit und der Witz bewundert werden, mit denen die damals noch jungen Filmemacher Egon Günther und Helga Schütz gearbeitet hatten. Es sollte nicht die einzige bittere Erfahrung bleiben. Auch andere Filme, zu denen Helga Schütz das Buch ge- (oder mitge-)schrieben hatte, bekamen Probleme. Erinnert sei nur an »Die Schlüssel« (1974), wiederum ein damals wie heute aufregender, geistig und künstlerisch anspruchsvoller Film, der die Professionalität seiner Szenaristin offenbart. In anderen Arbeiten für die DEFA wandte sich Helga Schütz dem spannungsreichen, widerspruchsvollen Leben oder Werk gro-ßer »Kollegen« zu - Georg Büchner, Hans
Vater hieß Johannes Bobrowski. »Das Erdbeben bei Sangerhausen und andere Geschichten« folgten 1972, ein Jahr später erhielt sie den Heinrich-Mann-Preis. Aus Jette, der Heldin der ersten Geschichte, wurde in nachfolgenden Erzählungen und Romanen das Nachkriegskind und schließlich Julia, die den Chorgesang verweigert. (»Julia oder Die Erziehung zum Chorgesang«, 1980) 1986 kam Anna Brühl, das Findelkind aus Dresdens schwersten Tagen, hinzu. Für sie gibt es keine Erinnerung an eine »alte« Heimat, sie muß sich Heimat, Identität und Geborgenheit ganz erarbeiten, und Findelkinder sind da wohl besonders sensibel. Per vom Schicksal bevorzugte Bruder Annas - Adam - ist eine Figur, die nach der Wende entstand. Im Roman »Vom Glanz der Elbe« (1995) besucht der Welterfahrene die alte kleine Heimat, und Helga Schütz, auch nach 1989 literaturpreisgekrönt, erzählt wie immer - humorvoll, leise, genau, ungeschönt und professionell - Schicksale von heute. Was oft wie die naive Wiedergabe »von den Fragen des Lebens unterm wirklichen Mond, unter wirklicher Sonne« wirkt, hat bei der erfahrenen Schreiberin meist mehr als einen Boden. Ihre Prosa setzt unaufdringlich Zeichen für Weltzustände, stiftet Modelle und birgt Hintergründe. Ewige Suche nach Heimat, Wurzeln und eigentlich sich selbst - daraus schöpft Helga Schütz ihre Wahrheit. Es ist schön, auf weitere Nachrichten von Jette/Anna hoffen zu dürfen.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/680153.die-entschiedenheit-der-sanften.html