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  • Politik
  • Vor 450 Jahren wurde Miguel de Cervantes geboren

Die neuen Welten der Literatur

  • Fritz Rudolf Fries
  • Lesedauer: 8 Min.

Salvador Dali: Don Quichotte et Sancho Panca, 1968

Foto: ND-Archiv

Die alte Frage, ob denn der Autor aus seinem Werk herausschaue wie ein Bild aus seinem Rahmen oder ob er sich darin zu verbergen suche, hat Leser wie Literaturwissenschaftler schon immer beunruhigt. Bei Shakespeare, einem Zeitgenossen von Miguel de Cervantes Jaavedra, ist es einigermaßen gleichgültig, ob uns der göttliche William die Spur seiner Erdentage aufzeigen wollte oder nicht. Gewiß, sein Hamlet mag ein Spiegelbild gewesen sein, und dessen Absicht, eine aus den Fugen geratene Welt wieder einzurenken, war auch die versteckte Botschaft der Tragödien und Komödien. Allemal ist das Drama eine demokratische Gattung, dem Zirkus näher als dem Platz unter der Leselampe. Die Prosa, und gar die der Verhältnisse, ist ein Komplott zwischen Autor und Leser, eine verkehrte Welt gemeinsam vom Kopf auf die Füße zu stellen. Keiner hat am Beginn der Neuzeit das dialektische Verhältnis von Phantasie und Realität so gut begriffen und dargestellt wie Cervantes. Sein Hauptwerk, die Geschichte des Ritters von der traurigen Gestalt, »Don Quijote«, ist nach der Bibel das meistübersetzte Buch und bis auf den Tag in mehr als 2300 Auflagen erschienen. Unzählige Arbeiten haben sich mit dem Ritter und seinem Autor beschäftigt, als habe der eine für den andern das Reich Utopia zu erobern gesucht.

Miguel de Cervantes wird 1547 in Alcalä de Henares, nahe Madrid, als viertes Kind mittelloser Eltern geboren. Der Vater ist Wundarzt, sein Einkommen das eines Barbiers. Das genaue Geburtsdatum ist unbekannt. Gesichert ist der 9. Oktober als Tag der Taufe. Das Jahr 1547 ist für die spanische Politik und Ideologie ein Glücksjahr. Es sterben der englische Ketzer Heinrich VIII. und der deutsche Herätiker Martin Luther. Kaiser Karl V. siegt über die vereinigten protestantischen Truppen bei Mühlhausen: »Ich kam, sah, und Gott siegte.« Gott ist Spanier geworden; im Weltreich seiner irdischen Statthalter geht die Sonne nicht unter. Im gleichen Jahr legen die spanischen Inquistionsgerichte ein »Verzeichnis der verbotenen Bücher« an. Der politischen Hegemonie folgt die ideologische Zensur. Dem Triumph der Bankiers, die das Silber aus Übersee horten, folgt der Staatsbankrott, der Niedergang einer Wirtschaft, die ihr Kapital nicht umsetzt. Noch sind keine 100 Jahre vergangen, seit der Entdeckung Amerikas und der Vertreibung der »andersgläubigen« Juden und Mauren. Mit ihrem Exodus zieht die Armut ins Land. Mit der Misere blühen die Halluzinationen. In Übersee färbt

das Pathos der Ritterbücher die Abenteuer der Conquistadoren.

Miguel und sein Bruder ziehen in den Krieg. Italien das Ziel, das in Neapel und Sizilien spanischer Besitz ist. Italien wird für Cervantes das gelobte Land der Künste und der Literatur, des Formenreichtums, ohne den jeder Ausdruck fade bleibt. 1571 siegen die Spanier im Verein mit dem Papst und dem Stadtstaat Venedig bei Lepanto im östlichen Mittelmeer gegen den alten Glaubensfeind. Der fieberkranke Soldat Miguel läßt es sich nicht nehmen, dreinzuhauen - was würde sonst die Nachwelt von ihm denken? Bis an sein Lebensende wird er die Schlacht preisen und seine ehrenvolle Verwundung, eine verstümmelte linke Hand, nicht verstecken. Nun wird seiner Beförderung nichts im Wege stehen.

Es kommt anders, Illusion und Desil-

lusion sind die Wechselbäder im Leben des größten spanischen Erzählers am Beginn der Neuzeit. Mit einem Empfehlungsschreiben Juan de Austrias, Halbbruder des Königs Philipp II., ausgestattet, wird Cervantes auf der Rückreise der Gefangene islamitischer Seeräuber, die von Algier aus einen schwungvollen Handel mit Christensklaven trieben. Zum ersten Mal umgibt ihn ein seltsamer Nimbus, eine Mischung aus Kostbarkeit und Anerkennung für seine unerschrockene Haltung in der fünfjährigen Gefangenschaft. In Madrid spart sich die Familie jeden Pfennig vom Munde ab. Die Schwestern verkaufen sich an betrügerische Liebhaber Das Bild des betrogenen, aber anständigen Mädchens wird später durch die »Exemplarischen Novellen« (1613) gehen, die nicht nur für Spanien eine neue Art des Erzählens begründen.

Endlich freigekauft, reiht sich Cervantes in die Schlange der Bittsteller bei Hofe ein. Er unterbreitet Pläne für eine Bekämpfung der algerischen Korsaren. Der spanische König, der sein Weltreich mit einer kafkaesken Bürokratie zu regieren sucht, hat andere Sorgen.

In Algier war der Schriftsteller Cervantes geboren worden. Er schreibt fürs Theater, es sind patriotische Stücke, darin die Standhaftigkeit des eigenen Herzens zugleich die Größe des spanischen Menschen meint. Das Publikum aber will sich bei den Komödien Lope de Vegas amüsieren. Mehr Erfolg hat Cervantes mit Gedichten, darunter eines zum Ruhme eines Arztes, der Nierensteine behandelt. Ein anderes, auf den gerade kanonisierten heiligen Hyazinth, gewinnt den Hauptpreis von drei Silberlöffeln. Und so beschließt er auszuwandern. Doch das Amt verweigert die Ausreise und empfiehlt, im Vaterland nützlich zu werden.

Man schickt ihn auf einem Esel durch die staubigen spanischen Provinzen: Als Requisitionsagent und Steuereintreiber konfisziert er im Namen des Staates Getreide und Geld für den heiligen Kreuzzug gegen England. 1588 würde die spanische Armada im Ärmelkanal untergehen. Da ist der Steuereintreiber Cervantes schon exkommuniziert, denn er hatte sich an den Besitz des Klerus herangewagt. Im Gefängnis von Sevilla, wohin er gewisser Unterschlagungen wegen (in Höhe des ihm vorgehaltenen Gehalts) einsitzt, soll er mit dem »Don Quijote« begonnen haben. Touristen in Sevilla können das auf einer Plakette an den Mauern des ehemaligen Gefängnisses - heute ein Bankhaus - nachlesen.

Der vom Leben enttäuschte Junker Don Quijote ist ein 50jähriger Hagestolz, der auf seiner Klitsche von einer seltsamen Krankheit befallen wird, einer literarischen Infektion. Er hat zu viele Ritterromane gelesen. Die haben sein Gemüt verdunkelt. Nun will er im Zeitalter der Schußwaffen und der staatlichen Bevormundung mit Pferd und Lanze ausziehen, das Reich der edlen Herzen und einer Menschlichkeit im Einklang mit dem Naturrecht wiederherzustellen. Wir alle kennen seine Taten und haben sie belächelt. Nur: Was zunächst eines der komischsten Bücher der Weltliteratur zu sein scheint, wird eines ihrer traurigsten - ohne daß da ein Widerspruch wäre. Pfarrer und Barbier verbrennen die Bibliothek des Junkers, mit wenigen Ausnahmen, in der guten Absicht, den Verrückten zu heilen. Aber es ist ja ein durch Literatur angestifteter Wahn. Der zeugt neuen Wahnsinn. Ein böser Zauberer, lügt der Pfarrer, habe die Bücher mitgenommen. Und ein böser Zauberer, den spätere Denker Entfremdung nennen werden, hat aus Windmühlen Riesen gemacht und aus Schafen feindliche Krieger. Also muß man ihn besiegen und die Dinge wieder erkennbar machen.

Nach Erscheinen des ersten Bandes (1605) taucht von der Feder eines bis heute nicht entdeckten Autors eine Fortsetzung auf. Und so begegnen sich im zweiten Band (1615) der echte und der falsche Don Quijote. Dies führt zu Spiegelfechtereien und verbalen Zweikämpfen, die vorausnehmen, was 400 Jahre später zum Repertoire unserer modernen Literatur gehören .sollte.

Überhaupt ist bei Cervantes schon alles angelegt, was wir späteren Autoren unserem Erfindungsreichtum anrechnen möchten. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit (und zugleich ein Schutz gegen die Zensur) löst Cervantes mit dem Hinweis, er habe das Manuskript in einem Laden in einer jüdischen Gasse von Toledo gefunden. Der Autor sei ein gewisser Sidi Hamete Benengeli. Mit diesem kann der Herausgeber Cervantes nun nach Belieben umspringen, ihn schelten und korrigieren und sich mit dem Leser gegen ihn verbünden. In den Vorworten an den Leser und den Widmungen an erlauchte Personen, die als Gönner des Autors gelten können, wird geleistet, was Spätere mit Vor- und Nachworten und mit Huldigungsadressen (an die jeweilige Partei, Regierung oder im Glücksfall an den Kulturfonds) wiederholen...

Über Sancho Pansa, »Schildknappe« des Ritters und von der Herkunft ein Bauer, der sich von Sprichwörtern und Zwiebeln ernährt, ist nahezu ebensoviel geschrieben und weitergedichtet worden wie über seinen Herrn. Er, dem die Herrschaft über eine Insel versprochen wird, ist am Ende der Erbe im Wahnreich des verrückten Aufklärers Don Quijote. Sollte uns das nicht bekannt vorkommen?

Es ist unmöglich, den »Don Quijote« auszuschöpfen. Er schreibt sich fort über die Jahrhunderte. Karl Marx, als er eine Artikelserie über den spanischen Liberalismus vorbereitete, schrieb an Friedrich Engels: »Schwierig ist's der Entwicklung auf die Sprünge zu kommen. Jedenfalls hatte ich rechtzeitig mit >Don Quijote< begonnen.«

Miguel de Cervantes starb am 23. April 1616, geachtet gewiß, aber wenig berühmt. Die Zeiten hatten sich kaum verändert. Im Todesjahr wurde das offizielle Verbot ausgesprochen, das kopernikanische Weltsystem öffentlich darzustellen. Womöglich hätte es Don Quijote gefreut, weiterhin im Mittelpunkt des Universums zu stehen.

Ein Jahr nach dem Tod des »spanischen Ingeniums« erscheint der letzte Roman, der noch immer die Beachtung nicht gefunden hat, die er verdient. Es ist ein Reiseroman nach antikem Vorbild, »Die Mühen und Leiden des Persiles und der Sigismunda«. Eine buntgewürfelte europäische Touristengruppe macht sich vom hohen Norden auf, in Rom den Mittelpunkt einer heilen Welt zu finden - im Zeitalter von Reformation und Gegenreformation. Ein skurriles, oft rätselhaftes Buch, das Cervantes parallel zu seinem »Don Quijote« geschrieben haben muß, auch er vom Wahn des Schreibenmüssens befallen, der nur durch die Rettung der Welt kuriert werden könnte.

Heinrich Heine hielt den »Don Quijote« für das größte aller epischen Kunstwerke. Und in immer neuen Übersetzungen, von Tieck über Gerda von Uslar bis zu Braunfels und Rothbauer, sind Lesarten entstanden, die das Werk von Cervantes zu einem Bestandteü der deutschen Literatur gemacht haben.

Und wer kennt nicht unter uns den einen und anderen Don Quijote, er sich lieber in Stücke hauen läßt, als zuzugeben, daß seine erhabene Dulcinea nur eine mistige Stallmagd ist. Metaphorisch gesehen, natürlich.

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