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  • Politik
  • Radioreform. Erste Eindrücke von zwei neuen Sendern für Berlin und Brandenburg

Und sonntags Oblate

  • Peter Berger
  • Lesedauer: 3 Min.

Mehr Radiovielfalt war uns mit der Rundfunkreform von Brandenburg und Berlin versprochen worden, und die haben wir nun: Bevor ich mir früh vorm Rasierspiegel die Klinge an die Kehle setze, darf ich als Kulturradio-Fan wählen zwischen Klassik-»Radio 3« und »radio kultur«, und das bedeutet zum Beispiel: zwischen Streichertrio und Klaviersonate, zwischen Schubert und Schumann. Und zwölf Stunden später, wenn ich mir nach getaner Arbeit zum Abendbrot mit einem Bier die Kehle netze, darf ich mich, auch wieder zum Beispiel, zwischen Kammermusik von Nielsen oder von Wieniawski entschei-

den. Und nicht nur das gefällige AUegretto eines Werkes wird mir geboten, oder das gefühlige Largo, nein: das ganze Opus soll es sein. »Das ist unsere Antwort auf das kommerzielle Klassikradio, das populistisch nur die delikaten Häppchen bietet«, meint man bei den kooperierenden Anstalten ORB und SFB, und ich würde gern Bravo rufen, Bravissimo sogar, wenn mir jemand auch schlüssig erklären konnte, weshalb diese Antwort gleich zweistimmig ausfallen mußte: Wenn zwei öffentlich-rechtliche Kultursender letztlich um die gleichen Hörer buhlen, freut sich allenfalls der private dritte darüber. Ein reformiertes Klassikradio also hätte mir gereicht, zwei sind schon eins zuviel. Vor allem morgens, wenn der politisch interessierte Bürger auch gern ein bißchen teilnehmen möchte an der In-

formationskultur seines Radios und dessen redlicher Hang zu musikalischer Ausführlichkeit die Informationsdichte mitunter beträchtlich behindert. Hatte Intendant Rosenbauer nicht versprochen, daß es uns auf »radio kultur« an nichts fehlen würde von dem, was uns einst auf Radio Brandenburg so unentbehrlich war? Die aufgeweckt-kritische Informationstruppe von »Auftakt« in Radio Brandenburg werde nun beim SFB ihr segensreiches Wirken fortsetzen, hieß es, aber zu meiner Zeit früh zwischen sechs und sieben hör ich nicht viel von ihr. Und das wenige wirkt so feierlich, als habe der SFB unter den neuen Kollegen aus Brandenburg bei ihrem Einzug in die Masurenallee erst mal schwarze Fräcke verteilt, damit sie mit ihrem mor-

gendlichen Wortprogramm auch besser zur Musik passen.

Sie passen trotzdem häufig nicht. Wie denn auch? Gewiß: Zum fünften Todestag Willy Brandts ließe sich Beethovens »Tata-ta-taaaah« noch denken, und wenn Helmut Kohl in Bitterfeld visionär durch blühende Landschaften wandelt, so schreit das förmlich nach Lortzings »Dideldum, dideldum, dideldum«. Aber das Tagesereignis richtet sich eben selten nur nach dem vorbereiteten Musikprogramm, und so kann's passieren, daß sich selbst die witzigste Glosse im klassischen akustischen Ambiente wie der Kommentar zu einem Staatsakt anhört. Die logische Konsequenz könnte eines Tages sein, alles wegzulassen aus dem Programm, was nicht mehr zur neuen Musikfarbe paßt.

Im voll durchtheologisierten Sonntagmorgenprogramm ist offenbar alles schon passend gemacht worden - auf beiden Kulturwellen. Nichts da mit heiterem Musikrätsel ä la »ad libitum« von Radio Brandenburg und anderem weltlichem Schnickschnack. Wer daran gewohnt

war, das sonntägliche Frühstück als fröhliches Familiengruppenbild mit Radio zu begehen, mache sich also auf andere Zeiten und Sitten gefaßt: Geistliche Kantaten hie, Motetten und ernste Gesänge da, die Sendung »Gott und die Welt« als Alternative zur Sendung »Glaubenssachen«, und schließlich ein stundenlanger Gottesdienst. Dazu passen weder Frühstücksei noch Krümel im Bett, da sitze man vielmehr grade und führe sich Oblaten ein.

Ärgerlicherweise wird der gute alte Bach zum Alibi dieser frömmelnden Programmpolitik gemacht. Seine geistlichen Kantaten werden hoch und runter gespielt, und dabei hätte der Vielseitige doch zum Sonntagmorgen auch was ganz anderes zu sagen gehabt: Zum Beispiel »Oh wie schmeckt der Coffee süße«. Vielleicht denken die Programmkonstrukteure noch mal drüber nach, was Vielfalt wirklich ist, bevor wir unsere liebgewordenen Lebensgewohnheiten fürs Radio ändern. Oder den Sender wechseln. Der liebe Gott wird sicher beides nicht wollen.

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