nd-aktuell.de / 06.11.1997 / Politik / Seite 12

Verwirrende Harmonie

Thomas Irmer

Gemeinsames Spiel von Schauspielstudenten aus Berlin und Mailand

Foto: Benjamin

Wir sind von Harmonie verwirrt«, lautet die Schlußzeile in Gertrude Steins Operetta aus dem Jahr 1922. Verwirrend ist der Text, den die amerikanische Sprachavantgardistin als eines von 75, meist ungespielten, Stücken hinterließ. Charaktere und Handlung im herkömmlichen Sinn gibt es in den 14 Bildern nicht. Die Sprache rollt zwischen Alltagsrede und Kinderreim hin und her, Wiederholungen sind ihr Stil, der .Selbstkommentar Methode - ein an der modernen Malerei geschultes Sprachgebilde, also ein abstraktes Stück.

Robert Wilson, der Theatermagier, wie er seit rund zehn Jahren in Deutschland genannt wird, ist ein Meister der Abstraktion, wenn er bekannte Theaterstoffe in seine Bilderwelt setzt. Diesmal gestand er vorab ein, Schwierigkeiten gehabt zu haben, denn Steins Stück läuft bereits als eine Wilson-Maschine der reinen Rede für in Musik und Raum frei zu arrangierende Figuren.

13 Darsteller, schwarz gewandet und mit stattlichen elisabethanischen Kragen, gelangen nach dem Genuß eines Zaubertrunks, der sie erstmal in Zeitlupe zu Boden fallen läßt, in höhere Sphären. Dort memorieren sie Bruchstücke ihres Le-

bensalltags, den sie nun als »Heilige« besingen. Seltene Blumen etwa, auch ein beim Eislaufen gebrochenes Bein. Operette oder Musical? Keines von beiden, denn für die Sparte Offenbach fehlt der schmissige Schwung und für etwas in Richtung Webber die Gefühlsseligkeit. Hans Peter Kuhn, lange schon Klangge-

stalter an Wilsons Seite, hat eine kräftige und ironische Musik komponiert, die auf die Wiederholung von Ohrwürmern nicht verzichtet. Mit sicherem Griff in die amerikanische Musikgeschichte von alten Märschen über Virgil Thomson, der einst zu Stein komponierte, bis hin zu an Tom Waits erinnernde Arrangements belebt er die Heiligen zu einem amüsanten Singspiel. Ein für die 90er typischer Stilmix. Eine CD scheint unvermeidlich.

Bemerkenswert die Leistung der Studenten der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin und einiger Absolventen der Theaterschule von Giorgio Strehler in Mailand. Wie schon vor fünf Jahren bei »Doktor Faustus Lights

the Lights«, als Wilson mit Schauspielschülern das erste Mal ein Werk von Gertrude Stein erarbeitete, verwirklichen die Talente seine Vorstellung vom gestischen Darsteller Denn sie sind von der bei Bühne und Fernsehen üblichen Psychologie noch unbelastet. Hier sind die Figuren nach ihrem Habitus entwickelt, das Temperament kommt aus dem Körpermaß. Ein Kleiner muß schnell sein, während Große nur schreiten. Aus dem Mit- und Gegeneinander der 13 Eleven wird die Dynamik der Körper Wobei es auch ulkig zugehen darf, wenn ein würdevolles Anfangstableau später als Versammlung von Fröschen wiederholt wird.

Es ist auffällig, daß Robert Wilsons Theaterarbeit der letzten Jahre eine Tendenz zu Leichtigkeit und Selbstparodie entwickelt hat. Das ist nicht damit begründet, daß ein Bühnenraum mit ähnlichen Lichtfarben und den fast gleichen, langsamen Figurenbewegungen darin einem anderen ähnelt. Jetzt, da auch alles etwas schneller und vor allem kürzer läuft, liegt es vielmehr an dem Konzept, den seit 25 Jahren kalkulierten Formalismus mit konsumierbarer Koketterie vorzuführen. In »Saints and Singing« gibt es ein Double des gestrengen Texaners, der mit Zeigestock und Dirigentenstab die anderen Figuren führt und beim Sprechen maßregelt. Im Hintergrund eine von Wilson bemalte überdimensionale Schultafel, an der Seite von ihm entworfene Sitzmöbel. So gesehen sieht man keine Stücke in Rätselbildern mehr, sondern immer nur Wilson, der sein Rätsel auf diese Weise gern und anschaulich preisgibt - als Schnäppchen vom Avantgardetheater Tatsächlich, wir sind verwirrt von soviel Harmonie.