Beschreibung eines Staatsstreichs

Im Recht bestens bewanderter Autor bewertet die Demontage des Sozialstaats

  • Claus Dümde
  • Lesedauer: 3 Min.
»Sozialstaat und Demokratie gehören zusammen«, betont Heribert Prantl unter Verweis auf Menschenrechtscharta und Grundgesetz. »Wer den Sozialstaat beerdigen will, der muss also ein Doppelgrab bestellen.« Der Jurist und Journalist beschreibt in seinem jüngsten Buch schonungslos die deutschen Zustände 2005: Obwohl der Patient zwar im Koma liegt, aber noch nicht tot ist, haben ihn Erbschleicher längst ausgeplündert - bis auf die Haut.
»Kein schöner Land« heißt das Buch. Ein Beitrag zur neuen deutschen Patriotismus-Welle? Wer den Autor aus der »Süddeutschen Zeitung« kennt, schließt das aus. Der Verlag hat dennoch das »Kein« in Rot-Druck hervorgehoben. Wie den Untertitel: »Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit«. Das klingt nach Kampfschrift. Und im guten Sinne sind das die rund 200 Taschenbuch-Seiten auch. Bevor Heribert Prantl Journalist wurde, studierte er Recht und Geschichte, war Richter und Staatsanwalt. Nun hält er ein leidenschaftliches Plädoyer für den Staat, der im deutschen Grundgesetz beschrieben ist, und klagt sowohl die an, die ihn schamlos ausnutzen, wie jene, die ihn systematisch zerstören. Wo Prantl das Übel sieht, macht er gleich im Vorspruch deutlich. »Im Gefolge des Wandels der Daseinsbedingungen haben sich unversehens Vorstellungen in die menschliche Gesellschaft eingeschlichen, wonach der Profit der eigentliche Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, der Wettbewerb das oberste Gesetz der Wirtschaft, das Eigentum an den Produktionsmitteln ein absolutes Recht, ohne Schranken, ohne entsprechende Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft darstellt«, zitiert er, was Papst Paul VI. schon 1967 in seiner Enzyklika Popularum Progressio konstatierte. Und auch das: »Man kann diesen Missbrauch nicht scharf genug verurteilen. Noch einmal sei feierlich daran erinnert, dass die Wirtschaft im Dienste des Menschen steht...« Das klingt nach PR und Sonntagsreden. Prantl erinnert an Artikel 14, Absatz 2, Grundgesetz, wo dem Gebot »Eigentum verpflichtet« eine Erläuterung folgt, die eigentlich nichts an Klarheit vermissen lässt: »Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.« Aber kein anderer Artikel des Grundrechtskatalogs sei beim Gesetzgeber wie dieser in Vergessenheit geraten, schreibt der Autor und belegt »staatliche Reichtumspflege« und die Verwandlung des nach Leistungsvermögen finanzierten Staates in einen »Lohnsteuerstaat« durch Fakten: Betrug zu Beginn der Ära Kohl der Anteil der Unternehmenssteuern am Gesamtsteueraufkommen noch 14,3 Prozent, war er beim Amtsantritt von Rot-Grün schon auf 6,7 Prozent gefallen und drei später auf nur noch 1,8 Prozent. In dieser Art ist das ganze Buch geschrieben: treffende Analyse, nicht selten mit Wortwitz, aber penibel belegt. So charakterisiert Prantl die Folgen dessen, was er als Midas-Kult der heutigen Ökonomie bezeichnet: »Ausbeutung war gestern; Entlassung ist heute. So mancher Entlassene wäre lieber ausgebeutet.« Im Kapitel »Reichtum verpflichtet« zeigt er auf, wie ein Sozialstaat finanziert werden könnte. Unter dem provokanten Motto »Lieber Schweine als Kinder« belegt er, dass der Abbau des Sozialstaats per Privatisierung besonders jene belastet, die solidarisch leben - Familien mit Kindern - und dass sich die Reichen auch daran noch schamlos bereichern. Motto: Auch Kleinvieh macht Mist. Prantl schildert im Kapitel »Konform, uniform, chloroform« wie die »Uniformität der öffentlichen Debatte« über vermeintlich notwendige Reformen zu Stande kommt, setzt sich im Kapitel »Kirche des Kapitals« mit der gerade jetzt im Streit um das Antidiskriminierungsgesetz aufs Schild gehobenen heiligen Kuh der »Vertragsfreiheit« auseinander. Prantl schildert, wie durch faktischen Ausschluss immer größerer Bevölkerungsteile - Migranten, Obdachloser, Sozialhilfe- und nun ALG-II-Empfänger - vom Leben einer zum Mythos gewordenen »Mittelstandsgesellschaft« das entsteht, was er so beschreibt: »Unsere Gesellschaft mutiert zur Klassengesellschaft...« Und er appelliert immer wieder, wie schon auf der Titelseite: »Der Sozialstaat ist Heimat. Beschimpfen kann ihn nur, der keine Heimat braucht. Und den Abriss wird nur der verlangen, der in seiner eigenen Villa wohnt. Ob er sich dort noch sehr lange wohlfühlen würde, ist aber fraglich.« All das ist sympathisch. Zumal Prantl Hoffnung machen will, dass diese auf Profit fixierte Gesellschaft zu den Maximen des Grundgesetzes, zu einer Koexistenz von Kapital und Arbeit, von Reich und Arm zurückkehren könnte. Wer das bewerkstelligen könnte, mag freilich auch er nicht zu sagen. Heribert Prantl: Kein schöner Land. Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit. Droemer Verlag, München 2005. 208 S., Pb., 12,90 .
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