Unsere Zeit gilt als die Epoche der Bilder - der schnell wechselnden Bilder auf den zahllosen Kanälen, zwischen denen wir hin- und herzappen. Was wir in dieser Bilderflut suchen, wissen wir nicht, und wenn wir es wüßten, bekämen wir es ohnehin nicht zu sehen, denn in rasender Folge werden die Bilder in Sekundenschnelle von anderen Bildern vergessen gemacht. Bilder, die bleiben, die wir uns in Ruhe ansehen können, die wir genießen und die unser Nachdenken anregen, bekommen wir auf diese Weise nicht in den Blick. Solche Bilder bieten uns nur die Maler, und unter ihnen einer ganz besonders: Edward Hopper.
Hopper, 1882 im amerikanischen Bundesstaat New York geboren und 1967 in der Stadt New York gestorben, erlebt seit einigen Jahren eine stille, aber nachhaltige Renaissance. Gewiß hat er noch nicht die Popularität eines Monet oder Cezanne erreicht, aber die Zahl seiner Verehrer wächst ungefähr im selben Maß, wie die mediale Bilderflut steigt. Das hat Gründe, denn Hopper ist der Maler der Ruhe, der Stille, nach der sich viele sehnen, aber auch der Einsamkeit, die viele in der modernen Welt schmerzlich an sich selbst erfahren. 1995 wurde seinem Werk eine große Retrospektive gewidmet, und zwar an jenem Ort, wo ohnehin die meisten seiner Bilder versammelt-sindr Im <Whit« ney Museum of Art in New York. Das Kunstmagazin »Art« ehrte ihn mit einer Titelgeschichte, und nach vielen Jahren hingebungsvoller Arbeit, der sich die Hopper-Expertin Gail Levin widmete, erschien das Werkverzeichnis in drei dikken Bänden plus einer CD-ROM, phantastisch ausgestattet, monumental und sündhaft teuer (Verlag Schirmer/Mosel, München 1995).
Der deutschsprachige Leser macht seine ersten Schritte zu Hopper am besten mit der kurzen, guten Einführung des Kunsthistorikers Wieland Schmied: »Edward Hopper - Bilder aus Amerika« (Prestel Verlag, München 1995), üppig bebildert. Zu den bekannteren dieser Hopper-Bilder zählt beispielsweise das Bild »Summertime« von 1943, in dem uns eine weibliche Gestalt im hauchdünnen, weißen Kleid entgegentritt, das die mit Mühe umschlossene Körperfülle vollständig dem Blick exponiert. Um sie herum ist nichts als Licht, das grelle Licht des Sommers. Es sind Bilder wie dieses, über die Wieland Schmied sehr treffend sagt, daß ihre Oberfläche sich als undurchdringlich erweist: »Wir wissen nicht, was >dahintersteckt<. Und wir müssen uns fragen, ob es überhaupt möglich ist, das zu erfüllen, wonach diese Gemälde so sehr zu verlangen scheinen: den Roman der Menschen zu schreiben, die in ihnen auftreten. Je tiefer wir in die Bilder Hoppers einzudringen versuchen, desto verschlossener wirken sie. Ihr Grund ist Schweigen.«
Hopper privilegiert einen Realismus, dem, entgegen dem äußeren Anschein, keinerlei Unmittelbarkeit mehr anhaftet. So unmittelbar der dargestellte Augenblick auch erscheint - die Unmittelbarkeit ist nur ein Produkt der Kunst. Die Realität wird zu einer Frage der Inszenierung, aber einer Inszenierung, die einen Aspekt der Realität deutlich ins Licht rückt und ihm allein die ganze Bühne überläßt. Eine große Rolle spielt dabei die Inszenierung des Sonnenlichts. Wenn Menschen in den Bildern Hoppers auftauchen, dann sind sie häufig konfrontiert mit dem Sonnenlicht. Aber all diesen Menschen im Strahl der Sonne ist gemein, daß sie unbewegt dasitzen, dastehen, in Innenräumen, im Freien, und daß sie das Leben nicht haben, sondern auf das Leben warten.
1963 malt Hopper sogar ein Bild mit »Sonnenlicht in einem leeren Raum«. Worum es ihm dabei geht, wird er gefragt. »Es geht mir um mich«, sagt er. Das Selbst erscheint nur noch als ein leerer Raum, in dem das Sonnenlicht alles ist, was bleibt. Die Darstellung des Menschen, des Selbst in der modernen Zeit.
Das war der Vollzug dessen, was er von seinen Lehrern an »Philosophie« aufgenommen hatte und wonach Kunst Leben war, ein Ausdruck von Leben, ein Ausdruck des Künstlers und seiner Interpretation des Lebens.
Das vielleicht bemerkenswerteste dieser Bilder hat in der Tat nach dem Willen des Künstlers mit »Philosophie« zu tun. Seit ich es kenne, seit mehr als fünfzehn Jahren, sinne ich ihm nach und bin doch noch nicht sehr weit damit gekommen. Mein Studium wurde von diesem Bild begleitet, in dem ich die Philosophie, ohne zu wissen warum, wiederfand. Edward Hopper nannte es »Excursion into Philosophy«. Ein Mann ist da zu sehen, mit strengen Bügelfalten in den Hosenbeinen. Worüber denkt er nach?
Mehr noch als der Grübler fällt diese halbentblößte Frau ins Auge, die hinter ihm liegt. Was ist das Verhältnis zwischen den beiden? Sie hat sich abgewandt, ihr Gesicht ist gar nicht sichtbar Er wiederum hat sich von der abgewandten Frau abgewandt, eine doppelte Abwendung also, zweimal Nein. Hat sie ihn abblitzen lassen? Warum dreht er sich nicht einfach um? Warum schenkt er ihrer verführerischen Blöße keinen Blick? Nein, er bleibt am Bettrand sitzen, in sich zusammengesunken und etwas verkrampft. Typisch Mann? Zehn Jahre früher, 1949, malte Hopper schon einmal diese Szene, aber mit vertauschten Rollen und einem weniger prätentiösen Titel: »Summer in the City«. So alltäglich die Szene vordergründig erscheint, so wenig eindeutig ist die Situation. »Sie wissen ja«, sagte er einmal, »welche Fülle von Gedanken und Assoziationen in ein Bild eingehen.«
Geht es um den Moment »danach«, der der Augenblick der Philosophie wäre? Ein Denken in der Leere der enttäuschten Lust, ein Fragen nach dem »Grund«? Anstelle des Traums von der Vereinigung findet das Individuum sich zurückgeworfen auf die Vereinzelung, mitten in den Ruinen der Repräsentation, d. h. seiner Vorstellungswelt, in der dies und jenes so große »Bedeutung« hatte und voller »Sinn« gewesen war Nach der Erfüllung
oder Enttäuschung, genauer läßt sich das nicht klären, nun das Nachdenken in seiner ganzen Nüchternheit. In der Geschichte der Philosophie ist das nicht ganz unbekannt: Piaton zufolge sollte das Subjekt sich von der Unmittelbarkeit der erotischen Erfahrung abwenden, um sich der wahren Schönheit zuzuwenden. Aber, so müssen wir heute fragen - welcher »wahren Schönheit«? - Eine Entzauberung der Welt hat mittlerweile stattgefunden, und die banale Wirklichkeit macht sich breit.
So geht es wohl auch unserem Mann, der den »Ausflug in die Philosophie« unternimmt. Die Sorge zerfurcht seine Stirn, beinahe wie beim »Denker« von Rodin, der über dem Höllentor brütet. Welches Buch hat der Mann da aufgeschlagen? Es scheint nicht wichtig zu sein, denn er hat es schon wieder aus der Hand gelegt: In dieser verzwickten Situation hilft ihm die große Weisheit der Philosophie auch nicht weiter Daher liest er nicht mehr in dem Buch, und wenn Hopper selbst es nicht verraten hätte, würden wir nie erfahren, ob es sich eher um Piatons »Symposion« oder um die »Justine« des Marquis de Sade handelt - die beiden Bücher nämlich, die auf etwas unterschiedliche Weise vom Garten der Lüste und vom Projekt der Philosophie handeln; man könnte sie die beiden Antipoden des erotischen Diskurses in der abendländischen Philosophie nennen, einig nur darin, daß die Erfahrung der Erotik grundlegend ist für die Philosophie. Der Mann auf dem Bett, verrät also der Maler, habe Piaton »ziemlich spät in seinem Leben gelesen«. Von den beiden Optionen - Abwendung von der Unmittelbarkeit der Lüste und Realisierung der »platonischen« Liebe; Zuwendung zu phantastischen Lüsten und ihre Realisierung im Traum - wählt er die erstere. Um einen Triumph der Philosophie handelt es sich auf jeden Fall.
Deutlich ist das Bild herausgeschnitten aus dem Alltag der beiden. Links das Bild im Bild, abgeschnitten, rechts das offene Fenster, abgeschnitten. Kein Zweifel, Hopper, den man gerne einen »Realisten« nennt, kannte den Impressionisten Degas
sehr gut. Was er herausgeschnitten hat, ist eine Episode des Paares am hellichten Tag, eine Szene der Existenz, eine kleine Welt in der Wohnung, die als moderne lichtdurchflutete Höhle an Piatons Höhlengleichnis denken läßt. In der Zimmerecke spielt sich das ab, es gibt kein Außen dazu. Das grelle Sonnenlicht, das durchs geöffnete Fenster hereinbricht, um sich wie ein Teppich vor die Füße des Mannes zu legen, wirkt wie ein Hohn angesichts der düsteren Atmosphäre. Hoppers bittere Ironie: Der Mann stiert auf diesen Lichtteppich, als säße er oben auf der Stufenleiter nach dem Aufstieg zur wahren Schönheit in Piatons »Symposion« erkennt er nicht die Inkarnation der Idee, die vom Sonnenlicht repräsentiert wird?
Natürlich kann man fragen, ob das mit Hoppers eigenen Erfahrungen zu tun hat. Warum gerade dieses Motiv? Das wisse er nicht genau, sagte er, aber es gehe ihm bei seinen Motiven darum, daß sie am besten für die Wiedergabe seiner inneren Erfahrungen geeignet seien. So wird das Bild zum Essay über den Eros, um dessen widersprüchlichen Charakter ans Licht zu bringen: Die Nähe, die er vermitteln kann, wird konterkariert durch die Distanz, in die er uns wirft. Hopper registriert penibel die stumme, unaufhebbare Distanz zum Anderen, das Phänomen des stillgestellten Menschen, der eingeschlossen ist in seine Endlichkeit, die wie eine Ewigkeit erscheint. Die Individuen sind sich fremd, und sie bleiben es; das ist die Bedingung ihrer Existenz. Sie sind sich umso fremder, je näher sie sich sind. Fremd bleibt das Individuum auch dem Wahren, dem es sich zuwendet. Die Entfremdung ist grundlegend; sie mag eingebettet sein in ein modernes Gewand, aber von ihr handeln schon die antiken Tragödien. Von ihr erneut zu sprechen, ist ein Schlag ins Gesicht der Zeit, die dem Gott der universellen Kommunikation und Kopulation huldigt. Ist Hopper also ein Pessimist? »Ein Pessimist? Ich glaube schon«, sagt er 1964. »Ich bin nicht stolz darauf.«
Es mag sich um eine Tragödie handeln, aber sie ist von einer Komödie nicht so
ohne weiteres zu unterscheiden. Eins seiner letzten Bilder, das er 1965, zwei Jahre vor seinem Tod, malt, zeigt »Zwei Komödianten«. Sie stehen auf der Bühne, die Vorstellung ist vorbei, und sie verbeugen sich vor dem Publikum. Hopper legte Wert darauf, stilgerecht seinen Abschied zu nehmen. Der Tod triumphiert über die Lächerlichkeiten des Daseins, über die tragische Entfremdung ebenso wie über den komischen Versuch zu ihrer Aufhebung. Das Komischste aber ist, daß die Individuen die Inszenierung erst in dem Augenblick als solche wahrnehmen, in dem sie von der Bühne des Lebens abtreten.
Die Moderne ist der Traum der Freiheit, einer Freiheit, in der jeder nur noch seinem eigenen Glück verpflichtet ist. Und zugleich ist der romantische Traum in der Moderne doch das Einssein mit dem Anderen: Mit einem geringeren Anspruch will sich keiner zufriedengeben. Also leben die Menschen enttäuscht, verlassen, allein mit ihrem Glück, das keines ist, unfähig zum Leben mit dem Anderen, wenn es kein Einssein ist. Ein eigenes Verständnis dessen, was es heißt zu leben, sein Leben selbst zu führen und sich aufs Leben zu verstehen, haben sie nie gewonnen. Genau aus diesem Grund sind Hoppers Individuen Kinder der Moderne. Leben können sie nicht, sterben wollen sie nicht: So sind sie zu Stein erstarrt in der endlosen Dauer des Augenblicks. Wenn auch die Unsterblichkeit ein Traum des modernen Menschen ist - hier ist er realisiert, ein Alptraum. In diesen leeren Räumen wird kein Schatten zurückbleiben, wenn die Menschen verschwinden.
Das Große an Hopper aber ist die Abwesenheit jeder Larmoyanz. Er beklagt nicht die Situation, die er vorfindet, er betrachtet sie nur Und entfaltet die Erotik als eine Kunst der Distanz - denn es ist schließlich die Leere, die eine übermächtige Anziehungskraft besitzt.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/695687.der-leere.html