Die Schmalzstullen sind geschmiert - Frank Beyer (Mitte) gibt Regieanweisungen für eine Szene in Manfred Krugs Wohnung Foto: Peter Homann
Ein Montagmorgen, Berlin-Dahlem, Spechtstraße. Nicht eben ärmlich die Gegend, noch die angebauten Doppelgaragen haben die Dimension von Eigenheimen. Doch die superlange dunkle Volvo-Limousine mit dem fremdartigen Kennzeichen, die vor der großen Backsteinvilla vorfährt, dürfte auch in dieser Nobelgegend kein alltäglicher Anblick sein, und die diversen Trabis und Ladas erst recht nicht. Noch bizarrer muten in solchem Ambiente die drei Männer an, die der Staatskarosse nun entsteigen und mit raschen Schritten ins Haus gehen: Anzüge in der Mode von übervorgestern und an den Revers jeweils das ovale Abzeichen der längst verblichenen SED! Wären da nicht die großen Scheinwerfer und die Filmkamera, die Dahlemer müßten glauben, ihre jahrzehntelang gehegte Wohlstandsinsel sei verspätet doch noch vom Meer der Roten überspült worden.
Mindestens ebenso unvorstellbar wie eine solche Wende der Wende dürfte ihnen aber sein, was später der fertige Fernsehfilm glaubhaft machen soll: daß nämlich diese Villa samt edler Antikmöbel und anderer feiner Interieurs anno 1976 im damals »roten« Pankow gestanden und nicht etwa einem der Parteibonzen gehört haben soll, sondern dem Sänger und Schauspieler Manfred Krug. Dessen letzte Wochen in der DDR bis zu seiner Ausreise am 20. Juni 1977 sind nämlich Gegenstand dieses Films, der nach Krugs damaligen Tagebuchaufzeichnungen gedreht wird und wie sein Buch den Titel »Abgehauen« tragen soll. Die erwähnte Szene mit der Ankunft der drei Herren in der Politbüro-Karosse wird die bereits zuvor gedrehten Passagen einleiten, die den wohl brisantesten Teil des Krugschen Buches ausmachen und dort schlicht »Mitschnitt« überschrieben sind: ein von Krug heimlich auf Tonband festgehaltenes Gespräch in seiner Wohnung
November 1976: r ' v '' ; “ : “' Darin versuchte das Politbüfbmitglied “Werner Üamberz, sekundiert von Fernsehintendant Heinz Adameck und dem
im Buch Karl Sensberg, im Film Eberhard Heinrich genannten dritten SED-Funktionär, Krug und zehn weitere höchst prominente Kulturschaffende des Landes wieder auf den Pfad der DDR-Tugend zu leiten, den sie und viele andere wenige Tage zuvor mit einer Protesterklärung gegen die Biermann-Ausbürgerung verlassen hatten. Zu ihnen gehörte neben Autoren wie Heiner Müller, Stefan Heym und Christa Wolf und dem Schauspieler-
Paar Angelica Domröse und Hilmar Thate auch der Regisseur Frank Beyer, der nun eben dieses Gespräch für den Film mit einem prominenten Darstellerensemble nachinszeniert.
So sitzen sie denn um den massiven Tisch, auf dem originalgetreu Schmalzstullen und Kaffee wenigstens fürs leibliche Wohl sorgen sollen: Christa Wolf (Ute Lubosch mit deutlich längerem Haar) und ein um eher drei als zwei Jahrzehnte ver-
jüngter Stefan Heym (Jürgen Hentsch) gegenüber dem Polit-Triumvirat um den mal quirlig leutselig, dann in scharfem Ton redenden Lamberz (Hermann Lause), ein andermal Peter Lohmeyer in der Rolle des Gastgebers Krug neben Uwe Kockisch als Jurek Becker Etwas abseits, als Dauerraucher mit dunkler Hornbrille der realen Figur ähnlicher als die übrige Besetzung, sitzt Karl Kranzkowski alias Heiner Müller, neben ihm Hermann Beyer, der in die Rolle seines Bruders Frank geschlüpft ist. Nur selten sitzen alle zugleich auf ihren Plätzen, denn auch die zwei Kameras brauchen Platz und freies »Schußfeld«. Gemeinsam haben Krug, Ulrich Plenzdorf und Regisseur Frank Beyer Krugs Buch zum Drehbuch umgebarbeitet, die Dialoge sind gegenüber dem Tonbandmitschnitt kaum verändert: den sei-
nerzeit notwendigen heimlichen Bandwechsel wird Beyer als einen der dramatischen Höhepunkte des Films gestalten. Krug selber wird im Film nur kurz als Erzähler auftreten, seine schließliche Ausreise über die Bornholmer Brücke will Beyer in den dokumentarischen Bildern eines damaligen TV-Beitrags wiedergeben.
Vorerst aber steht Wortdramatik auf dem Drehplan. »Gruppenbildung«, »Miß' brauch der Protesterklärung durch den Klassenfeind«, »Distanzierung«, die Worte schwirren durch den Raum, und das Zentralorgan ND wird hart gescholten, weil es zwar die erbosten Reaktionen auf die Protesterklärung, nicht aber die Erklärung selber abdruckte. Eine Paradoxie, die Krug spiegelbildlich auch bei den Protestlern ausmacht: »Erst benutzen wir den Klassenfeind, um die Erklärung öffentlich zu machen, dann tut der Klassenfeind seine Pflicht und >mißbraucht<, und dann setzen wir uns hin und hecken aus, wie wir uns von dem Mißbrauch distanzieren sollen.« Eine richtige, gleichwohl vertrackte Erkenntnis, die Krug-Darsteller Lohmeyer denn auch prompt erst nach etlichen Anläufen ohne Versprecher über die Lippen bringt. Da kommt für Momente Nervosität auf im Raum, der Zeitdruck der aus Kostengründen auf nur 19 Drehtage beschränkten Produktion verlangt seinen Tribut, doch Beyers Routine und Souveränität bringt alles rasch wieder ins Lot.
Ob am Ende die Zuschauer auch im Westen der Republik sich in die Brisanz dieser hochkarätigen Gesprächsrunde einhören können, wird sich im Juni zeigen, wenn die produzierenden Sender WDR und NDR »Abgehauen« ausstrahlen wollen. Mit Verständnisproblemen ist wohl zu rechnen, wenn sogar dem Lamberz-Darsteller Lause der DDR-Jargon »Volvograd« für die Siedlung Wandlitz bislang fremd war, den auch Krugs Buch mit einer erläuternden Klammer versieht. Den Dahlemern zumindest könnten durchaus aktuelle Assoziationen dazu einfallen. »Die bestbewachte Immobilie Ostberlins« sei sein Haus an jenem Novembertag gewesen, vermutet Krug in seinem Buch. Während ich draußen vor der Villa stehe, fährt innerhalb einer halben Stunde schon zum dritten Male eine Polizeistreife langsam durch die noble Straße, und zwei Polizisten zu Fuß habe ich schon vorher beobachtet. Ob auch Straßen in Kreuzberg oder Marzahn so gut geschützt sind?
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/698129.volvograd-in-dahlem.html