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Ach, du seine Fresse

  • Lesedauer: 4 Min.

Angeblich ist ja in diesem gewesenem Lande der verwesenden großen Geister nicht mehr viel los im Dichter-&-Denker-Oberstübchen. Und doch es gibt sie noch, die armen Poeten, die einsamen Genies, nur daß sie vorschriftsmäßig meist verkannt sind. Wilhelm Grabowski ist eines davon. Er ist ein großer Meister auf dem weitläufigen Terrain des deutschen Endreims. Außerdem ist er mein Zeitungshändler Neulich knallte er mir eine Zeitung auf den Tresen, auf deren Titelblatt ein

großes Konterfei des Ministers Kanther prangte. Dazu zitierte er eines seiner Werke, ein Kurz-Poem der äußersten Verdichtung. Der Dichter sprach: »Etjibt so Fressen, die kannste echt vajessen.«

Sicherlich, die provokante Radikalität dieser modernen Lyrik in ihrer dialektisch verfremdeten Präzision und Kühle des Sprachbildes wird manchen verschrecken. Der Ausdruck »Fresse« für ein menschliches Gesicht erscheint zunächst als Metapher zu wuchtig, zu brutal. Doch dürfen wir bei der Interpretation eines Gedichts nie den Gegenstand vergessen, von dem der Autor uns spricht. In diesem Fall ist es ein in der Zeitung erschienenes Bild, also ein spezielles Erscheingungsbild unserer Zeit. Was wir darauf konkret erblicken, ist der Minister für unser deutsches Innere. Doch wer erblickt da eigentlich wen? Bei diesem nationalen Trichinenbeschauer hat man ja immer - auch wenn er unvermutet in der guten Fernsehstube auftaucht - das Gefühl: Jetzt hat er dich gesehen! Jetzt macht er sich in Gedanken auf irgendeiner Liste hinter deinen Namen ein Häkchen - vielleicht auch ein Kreuz.

Und wir? Was haben wir da beim näheren Hinschauen vor uns? Etwa ein menschliches Gesicht? Oder, wie vom Dichter tieferblickend behauptet, eine »Fresse«, die ihre eigene Unmenschlichkeit plakatiert? Ich lasse diese Fragen im Raum dieser Kolumne stehen und überlasse die Antwort dem Leser, zu-

mal eine allzu offene Interpretation möglicherweise allzu richtig verstanden werden könnte - auch von Lyrik-interessierten Lesern bei der Staatsanwaltschaft. Mit denen hatte ich früher schon häufig die Ehre; einen edlen Wettstreit über Auslegungsfragen meiner gedruckten Worte zu führen. Diese: Wort-Gefechte fanden meist vor den Schranken des Moabiter Kriminalgerichts ihren Abschluß. Einige wurden für mich ziemlich kostspielig, da die »Verächtlichmachung staatlicher Organe« (so das gerichtliche Interpretations-Ergebnis in einigen Fällen) nicht zum Null-Tarif zu haben ist. So was mach t man nicht umsonst.

Nun kann man ein wirklich deutsches Gedicht ohnehin nicht bis in die letzten Nuancen ausdeuten. Da bleibt immer ein letztes Geheimnis, das uns aus dem Tiefgründigen anwehet und anwabert. Und die Rätsel den kleinen Werkes, das ich hier bespreche, sind trotz seiner scheinbaren Einfachheit und Klarheit mannigfach. Das beginnt schon in der ersten Zeile: »Etjibt so Fressen... «

Die Diffusität des Wörtchens »so«, das uns erst zu den »Fressen« führt, weist weit über das einmalige Erscheinungsbila'. der Kantherschen Innerlichkeit hinaus; es macht dessen scheinbare Einmaligkeit zur Vielmaligkeit, mithin zu einem allgemeinen Erscheinungsbild des deutschen Inneren.

a stellt sich soJort die Frage: Wenn es das »so« gibt - und

genau das sagt uns der Dichter - wie kann man »so« was als gegeben hinnehmen? Und wer war der Geber? Wer hat uns diese »Fressen« beschert?

Der Dichter hat einen verschlüsselten Hinweis zur Beantwortung dieser Frage nach dem Geber Er sagt nicht ohne Grund: »Etjibt... « Dieses »Et« ist hier als eine Freudsche Metapher der Verdrängung zu übersetzen: Das »Es« als neutrales Sinnbild des deutschen Unbewußten. Dieses Unbewußte ist es, das sich die bewußten »Fressen« erwählt, die daraufhin den Wählern ein demokratisches Bewußtsein attestieren.

In der zweiten Zeile nimmt der Dichter das eingangs anklingende Grundthema der Verdrängung - oder gar Abschiebung - in einem genialen Umkehrschluß wieder auf, wenn er sagt: »... die kannste echt vajessen«.

Doch kann man das tatsächlich? Können wir jene vom Dichter geschmähten »Fressen«, die sich täglich neu in unser Blickfeld drängen, »echt« vergessen?

Es ist wohl eine allzu kühne Vision, die dem Dichter Wilhelm Grabowski hier vorschwebt, ein seherisch hingeseufztes Traumbild von einem Nimmerland, von einem Nimmermorgen, in dem alte »Fressen« für immer in einem Orkus des Vergessens verschwinden. Wahrlich: Ein kleines Meisterwerk der phantastischen Lyrik. © Copyright by Dr Helmut Kohl

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