Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

EB) Bezahltes Lernen statt Arbeitslosigkeit

Entlassene Kollegen erkämpften 90 Prozent vom Lohn in einer Qualifikationsgesellschaft Von Knut Henkel

  • Lesedauer: 4 Min.

Mithilfe eines öffentlich geförderten Weiterbildungsprojektes versucht die Belegschaft des stillgelegten metallverarbeitenden Züchner-Werkes vor den Toren Hamburgs, sich den Gang in die Arbeitslosigkeit zu ersparen.

Eigene Büroräume und ein Schulungsraum im Industriegebiet Barmstedt - das ist derzeit der wichtigste Anlaufpunkt für die ehemaligen Mitarbeiter der Züchner Metallverpakkungs GmbH. Ein schlichtes Schild weist dem Besucher den Weg zur Qualifizierungsgesellschaft Barmstedt mbH (QGB), wo der ehemalige Betriebsratsvorsitzende Rolf Biermann die Kollegen in Empfang nimmt und ihnen mit Rat und Tat zur Seite steht. Er arbeitete von Beginn an in der Qualifizierungsgesellschaft, die im Dezember vergangenen Jahres aus der Taufe gehoben wurde und sich Anfang voriger Woche der Öffentlichkeit vorstellte.

Hervorgegangen war die Qualifizierungsgesellschaft aus einem Arbeitskampf zwischen Belegschaft und IG Me-

tall auf der einen und dem Eigner der Züchner Werke, dem weltweit agierenden Verpackungsriesen Cork Crown/ Carnaud Metal Box, auf der anderen Seite. »Im April 1997 erfuhr die Belegschaft von den Stillegungsplänen der Konzernmutter und beschloß umgehend, dagegen zu protestieren«, erinnert sich der 52jährige Biermann. In einem ersten Schritt sollten 85 von 130 Kollegen entlassen werden. Die weiteren Schritte bis zur Stillegung des Traditionsbetriebes wären dann nur noch eine Frage der Zeit gewesen, darin waren sich IG Metall und Belegschaft einig. »Dem wollten wir nicht tatenlos zusehen, also gingen wir auf die Straße, besetzten den Betrieb und entwickelten zusammen mit der IG Metall ein Alternativkonzept«, erläutert Biermann.

Das war die Geburtsstunde der Qualifizierungsgesellschaft, denn der Haustarifvertrag, der dem Konzern vorgelegt wurde, enthielt den entscheidenden Passus über die Einrichtung einer solchen Gesellschaft. Der Konzern stimmte schließlich den Forderungen der Belegschaft in zähen Verhandlungen mit der IG Metall zu, bei der mehr als 90 Prozent der Belegschaft Mitglied waren. »Die positive Entscheidung aus der Konzernzen-

trale in Paris hat uns nicht sonderlich überrascht, da Konzerne dieser Größenordnung - Carnaud Metal Box hat einen weltweiten Umsatz von etwa 20 Milliarden Mark - recht empfindlich auf negative Schlagzeilen reagieren«, erklärt Peter Ladehoff, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Verwaltungsstelle Elmshorn und einstiger Verhandlungsführer auf Arbeitnehmerseite, rückblickend.

Das Erreichte kann sich sehen lassen, zumal das Modell Barmstedt in der Region mit mehr als elf Prozent Arbeitslosen einmalig ist. Alle der rund 130 ehemaligen Züchner-Beschäftigten haben einen befristeten Arbeitsvertrag bekommen. Bis zum 30. November 1999 erhalten sie rund 90 Prozent ihres früheren Lohnes und haben so die Möglichkeit, sich ohne tiefe Einschnitte in der Lohntüte in neuen Berufsfeldern weiterzuqualifizieren. Zudem erhielt jeder eine Abfindung, die allen zu 100 Prozent erhalten bleibt, da sie »strukturell kurzarbeiteten«. Die Regelung der strukturellen Kurzarbeit ist im Arbeitsförderungsgesetz fixiert und konnte bis zum Jahreswechsel für 24 Monate beantragt werden, wenn ein Betrieb aufgrund einer strukturellen Krise seine Tore schloß, erklärt Biermann. In ihrem Fall wäre das die zunehmende Verdrängung von Metallverpackungen durch Kunststoffe gewesen.

Der mittlerweile von 130 auf 118 Kollegen geschrumpften Belegschaft steht eine Fülle von Qualifizierungen offen, die im Verbund mit Bildungsträgern angeboten werden. Derzeit laufe, so QGB-Geschäftsführer Hans-Joachim Olczyk, ein EDV-Grundlagenseminar sowie ein Kurs in Lagertechnik, wo Interessierte ihr Wissen auf den neuesten technischen Stand

bringen. Ausländische Kollegen verfeinerten ihre Deutschkenntnisse oder nähmen wie ihre deutschen Kollegen am Bewerbungstraining teil. Die Voraussetzungen für die berufliche Neuorientierung der ehemaligen Züchner-Belegschaft könnten somit kaum besser sein. Die ersten acht Kollegen sammeln gerade über Praktika erste Erfahrungen in anderen Betrieben. Fünf haben beinahe schon den Absprung aus der Qualifizierungsgesellschaft geschafft und ein Zweitarbeitsverhältnis aufgenommen.

Daß alle einen neuen Job in der strukturschwachen Region finden, wagt auch Biermann nicht zu hoffen. Viele holten Infos über den Vorruhestand ein. »Doch gelohnt hat sich der Arbeitskampf allemal, denn der Konzern wurde gezwungen, Verantwortung für seine Mitarbeiter zu übernehmen und sich mit einer neuen Form des Sozialplans anzufreunden«, resümiert Peter Ladehoff. »Das könnte ein Modell für Betriebe werden, die von der Schließung durch die Konzernherren bedroht sind. Dann müßten sie jedenfalls ein letztes Mal in die Tasche greifen.«

Finanziert werden die vielfältigen Aktivitäten der Qualifizierungsgesellschaft über drei Töpfe. Der ehemalige Arbeitgeber zahlt rund 10 Millionen Mark, während das Arbeitsamt etwa 4,5 Millionen zur Realisierung des Gesamtprojekts beisteuert. Zudem wurden Mittel beim Sozialfonds der Europäischen Union beantragt. »Rund 500 000 Mark sind es, die uns aus Brüssel für Qualifizierungsmaßnahmen während der strukturellen Kurzarbeit zur Verfügung gestellt werden«, erläutert Frau Dropsch vom Arbeitsamt Elmshorn.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal