nd-aktuell.de / 28.05.1998 / Politik / Seite 13

Lebensspuren eines liebeshungrigen Genies

Hansjürgen Schaefer

Die diesjährigen Dresdner Musikfestspiele präsentieren sich mit besonderem und erfreulichem Akzent: Sie bieten in der Semperoper - was an deutschen Opernhäusern rar geworden ist neue Werke des Musiktheaters. Da gibt es, als Gastspiel des Badischen Staatstheaters Karlsruhe, die vor kurzem dort uraufgeführte Oper »Farinelli« von Siegfried Matthus (Vgl. ND vom 3.3.98). Zuvor präsentierte die Sächsische Staatsoper als Uraufführung aber auch ein eigenes Auftragswerk: »Thomas Chatterton« von Matthias Pintscher. Es entstand nach einem Schauspiel von Hans Henny Jahnn, das 1956 in Hamburg in einer Gründgens-Inszenierung Premiere hatte. Das Libretto für die Oper schrieb gemeinsam mit dem Komponisten der kürzlich verstorbene Claus C. Henneberg.

Der 28jährige Komponist aus dem nordrhein-westfälischen Mari, gefördert von Klebe, Henze, Trojahn, Lachenmann,

ist der Shooting-Star unter den jungen deutschen Tonsetzern. Ein halbes Hundert Titel weist sein Werkverzeichnis bis heute bereits auf. Die Kompositionsaufträge häufen sich. Während der Dresdner Uraufführung seiner ersten Oper sitzt er an der Partitur der nächsten, »Heliogabal«, deren Uraufführung für die Salzburger Festspiele 2001 geplant ist. 1999 wird er zur Berliner Musik-Biennale die Uraufführung einer Szene für großes Orchester, »Dunkles Feld - Berückung«, dirigieren. Im gleichen Jahre beginnt eine Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern unter Abbado. Sein kompositorisches Handwerk beherrscht Pintscher brillant.

Jahnn hatte sich in seinem Schauspiel dem Schicksal des aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Thomas Chatterton gewidmet, der im 18. Jahrhundert lebte. Ein begabter Schriftsteller, lebensund liebeshungrig, der auch vor brillanten Täuschungen nicht zurückschreckte. Sein Leben endete aber schon mit 17 Jahren in London. Diese romantische Genie-

Story erhielt bei Jahnn einen betont gesellschaftskritischen Akzent: Die Spießbürger in Bristol und London lehnen Chatterton ab, treiben ihn ins Milieu der Strichjungen und Dirnen, lassen seinen Kampf für die Ärmsten und Entrechteten scheitern.

In der Oper bleibt dieser kritisch-engagierte Zug der Fabel erhalten. Der begabte, ehrgeizige und sensible junge Mann scheitert an den eigenen hochfliegenden Plänen und an der Gleichgültigkeit seiner Umwelt. Er geht an sich selbst und an den starren Formen seiner Zeit zugrunde.

Pintschers knapp zweistündige Oper, in zwei Teile gegliedert, pausenlos durchzuspielen, folgt traditioneller Musiktheater-Dramaturgie und läßt, dies scheint mir das Problem des Werkes, der Musik zuviel an dramatischer wie lyrischer Beredsamkeit, gibt ihr zu wenig klare Tektur, dramatischen Gestus, der die Charaktere formt. Gesang, gesprochenes Wort und Aktion auf der Bühne ertrinken in einer Flut virtuos aufgezäumter Musik. Orchestrale Musik, Gesangsaktionen und Handlung greifen zu wenig sinnvoll ineinander Der Klang überlagert zudem beträchtlich den gesungenen Text, macht ihn über weite Strecken unverständlich. So nutzen sich die durchaus effektvollen, dramatisch zugespitzten Akzente des Musikalischen auch bald ab. Dazu kommt in der Semperoper ein wenig charakteristisches Bühnenbild: Der Effekt eines schräg stehenden Grundraumes, in dem Regisseur und Bühnenbildner Marco Ar-

turo Marelli das Ganze ansiedelt, deutet natürlich auch hier auf eine ins Wanken geratene Welt. Aber neben dem in blassem Rot auftretenden Titelhelden agiert eine Fülle kaum differenzierbarer schemenhafter Figuren zumeist in fahlem Grau. So fehlt es denn an einer einleuchtenden szenischen Gestaltung.

Der Glücksfall für diese Uraufführung: Das virtuose und überzeugende Spiel der sächsischen Staatskapelle unter dem energischen Marc Albrecht. Die Dresdner Staatskapelle, nunmehr 450 Jahre alt, erweist sich hier auch als brillante Interpretin neuer Musik. In der Titelpartie überzeugt der junge Bariton Urban Malmberg durch eine beachtliche sängerische und gestalterische Leistung. Auch im Solistenensemble zeigte man sich den besonderen musikalischen Aufgaben glänzend gewachsen. In souveräner Sprechrolle als Chattertons kritisches Alter ego Aburiel ging Dieter Mann mit Würde über die Szene.

Pintscher hat sich mit diesem Opernerstling als begabter Musikdramatiker erwiesen. Wenn seinem Werk auch noch die musikalisch-szenische Konzentration, der dramatische Biß fehlen - daß die »Stiftung zur Förderung der Semperoper« diesen Kompositionsauftrag ermöglichte, bleibt dennoch verdienstvoll. Denn gerade das Komponieren von Opern bedarf der praktischen Erfahrung. Matthias Pintscher hatte hier eine große Chance. Möge sie ihm bei der weiteren Arbeit in diesem Metier hilfreich sein.