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– Schlaffe Wimpel trotz Wechselwind

Heute beginnen die letzten 100 Tage vor der Bundestagswahl - alles deutet daraufhin, daß es auch die letzten Tage der Ära Kohl sind Von Peter Richter

  • Lesedauer: 6 Min.

UWochen vor dem 27. September reden alle vom Wechsel, aber die Wahlkampffahnen hängen schlaff im Wind. Noch verharren die Parteien in den altbekannten Ritualen der Ära Kohl.

Als auf dem Bremer CDU-Parteitag Mitte Mai einige enthusiasmierte Christdemokraten den Zehn-Minuten-Beifall für ihren Vorsitzenden mit dem Sprechchor »Jetzt geht's los« garnierten, verzogen nicht wenige Beobachter auf der Pressetribüne spöttisch die Gesichter War das nicht der Schlachtruf, mit dem vor vier Jahren der damalige SPD-Kanzlerkandidat Rudolf Scharping ins Rennen geschickt worden war? »Damals begann der Abstieg«, kommentierte einer der Journalisten trocken.

Geschichte wiederholt sich nicht, jedenfalls nicht in platter Analogie. Helmut Kohls Abstieg hatte lange vor Bremen begonnen, sollte dort aber endlich aufgehalten und umgekehrt werden. Daß dies nicht gelang, sondern die Trendkurve weiter gnadenlos nach unten zeigt, bestätigt freilich die sarkastische Prognose: Mit Sprüchen allein läßt sich keine Politik machen. Schon gar nicht mit solchen, die verstaubten Mottenkisten entstammen.

Mehr aber ist CDU und CSU mit ihrer »Rote-Hände-Kampagne« nicht eingefallen - und das vielleicht nicht einmal nur aus bösem Willen. Tatsächlich haben die Unionsparteien nach löjähriger Regierung nichts anzubieten, was die Wähler einer Volkspartei auf ihre Seite ziehen könnte. Es ist kein Zufall, daß über die Wirkung des viel gepriesenen »Zukunftsprogramms« Wolfgang Schäubles als Wahlkampfgrundlage selbst in der eigenen Partei Zweifel bestehen. Ist es doch weniger ein Programm für das Volk als vielmehr eins für eine schrankenlose Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft im Weltkonzert. »Wir können unser Wohlstandsniveau nicht vererben, und wir können bei dem Erreichten nicht einfach stehenbleiben« - solche Verheißungen Schäubles eignen sich kaum zur Wählerwerbung; seine »Visionen« können allenfalls den einen oder anderen aus der FDP-Klientel ansprechen. Der immer wieder eingeforderte »inhaltliche« Wahlkampf der Union scheitert schon allein daran, daß seine Zielgruppe nicht jene Millionen sind, die sich nach 16 Jahren Kohl nicht gerade auf der Sonnenseite der Gesellschaft sehen.

Da ist es kein Wunder, daß CDU und CSU auf Nebenkriegsschauplätze ausweichen - allerdings bisher auch ohne rechten Erfolg. Leute wie Schäuble oder Geißler begreifen durchaus, daß Konterpropaganda allein nicht ausreicht, um eine Trendwende herbeizuführen; also schlagen sie »positive« Propaganda vor, Erfolgsmeldungen, die jedoch in der Rea-

lität keine seriöse Basis haben. Da wird die saisonbedingte Abnahme der Arbeitslosigkeit ebenso wie das zeitweilige Abbremsen des längst beschlossenen Zurückfahrens von ABM fast zum neuen Wirtschaftswunder hochstilisiert - kaum eine Hoffnung für jene, deren Lebenschancen seit Jahren weniger von wohlfeilen Statistiken als von wachsenden Nöten bestimmt werden.

Die demoskopischen Erhebungen sprechen - bei aller Vorsicht, mit der sie zu genießen sind - eine deutliche Sprache

Bandagen; CDU-Bedenkenträger könnten deren »Schlagkraft« an den heimischen Stammtischen nur mindern.

Noch hilfloser agiert die FDP bei ihren Absetzbewegungen. Deren Generalsekretär Westerwelle versucht, die unionsinternen Zweifel über Helmut Kohls Siegeschancen für die eigene Partei zu nutzen, indem er sich zum Fürsprecher des »Kronprinzen« Schäuble macht - so, als wollte er sagen: Wenn ihr uns wählt, setzen wir den Nachfolger durch. Als hätte er nur auf solch ein Signal gewartet, stell-

»Fast food« im Wahlkampf - da ist selbst Whopper nicht chancenlos

über die Erfolglosigkeit der bisherigen Wahlkampagne der Union. Im gern zum Vergleich herangezogenen Jahr 1994 lag die Union sechs Monate vor der Wahl in den unterschiedlichen Prognosen der Institute zwischen vier und sieben Prozent hinter der SPD. Ein Vierteljahr später hatte sie den Rückstand aufgeholt und war teilweise sogar deutlich in Führung gegangen. Jetzt jedoch beträgt ihr Rückstand immer noch - und da sind sich alle Institute einig - sieben bis acht Prozent. Die Veränderungen sind marginal, was jedoch den CDU-Generalsekretär nicht hindert, vom »Stimmungsumschwung« zu reden. Sein dürrer Beweis: 76 Prozent halfen den Ausgang der Bundestagswahl für offen.

Sieht man von Hintze ab, wird auch im Koalitionslager die Ausweglosigkeit immer deutlicher erkannt. Seit Monaten können sich CDU und CSU nicht auf ein paar gemeinsame Schlagworte für den Wahlkampf einigen. Die CSU führt längst ihre eigene Bayern-Kampagne mit harten

te Möllemann sogar die gesamte Koalitionsausrichtung der Freidemokraten zur Disposition, denn für ihn wie andere ist undenkbar, daß die FDP in die Opposition geht. Er übersieht dabei, daß die Partei unter Gerhardts Führung so sehr zum Anhängsel der Union und zum wirtschaftsliberalen Herrenclub verkommen ist, daß für eine solch abrupte Umkehr jede Basis fehlt. Die FDP kann nur noch ihrem Vorsitzenden folgen oder ihn in die Wüste schicken; letzteres aber erst nach dem Wahltermin.

Die Opposition jedoch macht bei all dem kaum eine bessere Figur In einer Mischung aus Schauder und Schadenfreude beobachtet die SPD den Todeskampf des politischen Gegners. Und rührt sich nicht - zum einen, um seinen Fortgang nicht zu stören, zum anderen, weil sie angesichts des eigenen dürftigen Konzepts nicht selbst in Strudel geraten will. Nach dem schwachen Echo auf die Präsentation der Schröder-Mannschaft hüllen sich deren Mitglieder so sehr in

Schweigen, daß man ihre Namen schon fast vergessen hat, und der Kanzlerkandidat flüchtet sich mehr als je in Unverbindlichkeiten, um nur ja keinen falschen Schritt zu tun. Da verwundert nicht, wenn nur noch 27 Prozent der Wähler die Lösungskompetenz der SPD höher schätzen als jene der Union.

Bestätigt mag sich die SPD in ihrem Nicht-Wahlkampf durch die Bündnisgrünen fühlen, die den Kopf in einigen Fragen allzu weit aus der Deckung streckten und nun ihre Beulen kühlen. Auch sie sind längst so etabliert, daß sie die rauhen Winde fürchten, die konzeptionelle Defizite freilegen; lieber bessern sie solche Blößen mit der heißen Nadel aus und meiden anschließend jede Bewegung, auf daß sich die Flicken nicht wieder lösen.

Bei der PDS wiederum wird - von Ausnahmen abgesehen - nach Programmatischem gar nicht erst gefragt, ihr scheint zu genügen, wenn sie im Gespräch bleibt. Insofern war der neue Regierungssprecher Otto Hauser für sie ein Glücksfall, denn er besorgte nicht nur die Mobilisierung der eingefleischten Adenauer-Erben

ND-Foto: Burkhard Lange

in der CDU, sondern zugleich jene ihres Pendants bei den Sozialisten. Aber er erreichte noch mehr, und dies war neu: Hintzes und Hausers Polarisierungsstrategie führte sogar bei manch Konservativem zu gründlicherem Nachdenken über das nun schon acht Jahre alte Geschöpf in der Parteienlandschaft - bis hin zu der zögernden Erkenntnis, daß man möglicherweise lange Zeit mit ihm leben müsse. Diese neue, vorsichtige Zuwendung dürfte nicht zuletzt an die PDS einige Anforderungen stellen, auf die sie wohl noch nicht so recht vorbereitet ist.

Für die Strategen des Konrad-Adenauer-Hauses mag die Diskrepanz von Ziel und Ergebnis ihres Richtungswahlkampfes irritierend sein. Es zeigt jedoch, daß auch eine fast eine Ewigkeit regierende Formation die Übereinstimmung von Wunsch und Wirklichkeit nicht erzwingen kann. Vielleicht ist das über alle Wahlprognosen hinaus der überzeugendste Beweis, daß in diesen 100 Tagen eine politische Ära zu Ende geht.

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