nd-aktuell.de / 20.06.1998 / Politik / Seite 14

Leben wir in einer Kultur des Tötens?

Jean-Claude Wolf,

geboren 1953, ist ein international renommierter Theoretiker der Tierrechtsbewegung. Der Professor für Ethik und politische Philosophie lehrt an der Universität Fribourg (Schweiz). Sein 1992 erschienenes Buch »Tierethik« gehört inzwischen zu den Standardwerken innerhalb der Diskussion um die ethischen Ansätze im Verhältnis Mensch-Tier.

.Foto: privat

Kriege mehr geben wird, wenn die Schlachthäuser abgeschafft sind. Aber zweifellos steckt hinter der Tötung von Tieren die Auffassung, daß es Lebewesen gibt, die weniger wert sind als ein Mensch oder als ein Freund oder als jemand, den man als ebenbürtig betrachtet. Und insofern strahlt diese Bereitschaft zum Töten und zur Gewalt sicher auch auf die Bereitschaft zur Gewalt im Krieg aus.

? Menschen, die sich gegen die alltägliche Tötung von Tieren wenden, vertreten eine Minderheitsposition. Woher nehmen solche Menschen die Motive für ihr unpopuläres Handeln?

Es gehört schon Kraft dazu, diese Minderheitsposition auszuhalten. Denn es ist ja einigermaßen unwahrscheinlich, daß sie sich in absehbarer Zeit in eine Mehrheitsposition umwandeln wird. Nun gibt es natürlich mehr oder weniger problematische Motive, in einer solchen Minderheit zu sein. Man kann stolz sein darauf, man kann ein Märtyrerbewußtsein oder ein Sendungsbewußtsein entwikkeln, oder auch ein Überlegenheitsgefühl. Man sagt, wir sind die wenigen Reinen oder die wenigen Einsichtigen. Diese Motive spielen sicherlich eine Rolle.

? Aber doch nicht ausschließlich ...

Auf jeden Fall muß man hier die Selbstachtung nennen. Sie ist für mich eine Art Bindeglied zwischen den relativ hohen Ansprüchen der Moral einerseits und der Frage, was ich eigentlich davon habe, wenn ich moralisch handele. Und es heißt ja, daß Menschen, die moralisch

handeln, dadurch auch glücklicher seien. Das ist vermutlich etwas naiv. Oder es heißt, Leute mit hohen Moralansprüchen hätten automatisch ein sinnvolles Leben. Der Zusammenhang ist sicher nicht so klar und einfach. Aber ich glaube schon, daß es wichtig ist zu fragen, ob man sich selbst in die Augen schauen kann. Ob ich das, was ich tue, letztlich vor mir verantworten kann. Diese Test-, frage spielt zweifellos gerade bei der Behandlung von Tieren eine wichtige Rolle.

? Haben Sie Hoffnung, daß die Menschen diese Kultur des Tötens irgendwann verwerfen?

Durchaus. Wenn das Problem öffentlich mehr diskutiert wird, nehmen vielleicht auch die Schuld- und Schamgefühle der Menschen stärker zu. Ein Alltagsbeispiel: In vielen Restaurants ist es zur Selbstverständlichkeit geworden, vegetarische Alternativen anzubieten. Das ist für mich ein Indiz, daß es für viele eine Erleichterung, eine Befreiung ist, kein Fleisch essen zu müssen. Das ist schon ein gewisser Fortschritt. Vielleicht wird man bereits in 100 Jahren mit ähnlichem Befremden auf Karnivore zurückblicken wie heute auf Kannibalen.

? Was tun Sie selbst gegen das Töten von Tieren?

Vor allem esse ich sie nicht. Und ich bringe das Thema so oft an, daß es allen Leuten in meinem Umfeld ungemütlich dabei wird.

Interview Ingolf Bossenz