nd-aktuell.de / 20.06.1998 / Politik / Seite 19

Erst die Gummireifen, jetzt das Fernsehen

Die Eltern des Predigers haben ihre Konsequenzen aus zunehmender Verweltlichung der mexikanischen Mennoniten gezogen. Schon 1954 wanderten sie nach Bolivien aus. Damals kamen die Gummireifen bei den Treckern auf. Die Altkolonier wollten diese Verweichlichung des durch harte Arbeit und Entbehrung gekennzeichneten Erdendaseins nicht akzeptieren. Reimer junior nennt heute allerdings einen ganzen landwirtschaftlichen Fuhrpark mit Profilreifen sein Eigen und fährt mit großem Pick-Up durch die Gegend. Was könnte ihn zum Auswandern bewegen? »Das Fernsehen. Wir haben schon daran gedacht wegzuziehen.« Auch Schulleiter Abram Dyck in Blumenau erinnert sich an die Auseinandersetzungen innerhalb der Mennonitengemeinde. Seine Eltern waren als Kinder mit der ersten großen Siedlerwelle

1922 aus Kanada nach Chihuahua gekommen. Knapp 30 Jahre später wurde Vater Gerhard Dyck zum Dorfprediger gewählt. Doch es gab ein Problem: Sein Trecker fuhr auf Gummireifen. Die Mehrheit der Altkolonier seines Dorfes wollte ihn zwingen, sie wieder abzubauen. Gerhard Dyck weigerte sich und entzog sich dem Druck schließlich, indem er nach Cuauhtemoc ging.

So kam Sohn Abram zu umfassender Schulbildung, studierte und ist nun Direktor der größten Mennonitenschule in Mexiko. Einen bedrohlichen äußeren Einfluß auf die Kolonie sieht er nicht: »Ich glaube, die ganze Veränderung ist von innen entstanden, von unseren eigenen Leuten'aus! So wie meine Eltern'zum Beispiel nicht mehr mit der Schulbildung in den Dorfschulen zufrieden waren.«

Abram Dyck, heute Mitglied der aufgeschlossenen Mennonitischen Konferenz, hat die Vorstellungen seiner Eltern umgesetzt. In der modernen Schule von Blumenau lernen die Kinder zweisprachig in Deutsch und Spanisch. Früher sprachen nur die Männer Spanisch, die Kontakt mit der Außenwelt hatten. Musik, bei den Altkoloniern gänzlich verpönt, steht jetzt ebenso auf dem Stundenplan wie Computer- und sogar Sexualkundeunterricht. Die Schule ist in das Bildungssystem des Landes eingegliedert, die Abschlüsse werden überall anerkannt. Die Schüler sollen umfassend auf das Leben vorbereitet werden. »Wir werden ständig mit Einflüssen von außen bombardiert«, meint der Schulleiter, »und viele von denen haben wir auch angenommen. Die Geschlossenheit, die

diese Kolonie charakterisierte, ist verschwunden.« Wirtschaftsbeziehungen der Kolonisten mit den Mexikanern und die zunehmende Motorisierung haben die freiwillige Isolierung aufgeweicht.

In den vielen kleinen Dörfern im Mennonitenland hat die Schulbildung indes einen ganz anderen Stellenwert. Zum Beispiel in Neuendorf. Alles ist sauber und ordentlich, die schlichten grauen Häuser haben strahlend weiße Fensterrahmen. An der Stirnseite eines etwas größeren Gebäudes fallen drei nebeneinanderliegende Fenster auf, das mittlere liegt etwas höher als die anderen. Die Dorfschule: Unter dem mittleren Fenster ist Platz für das Lehrerpult.

Neugierig kommt ein kräftiger Mittvierziger auf uns zu. Der Lehrer von Neuendorf. Bereitwillig zeigt er uns seine Schule mit einem einzigen Klassenraum für alle Jahrgänge. Gelernt wird ausschließlich an Hand von Bibelpassagen, Grundprinzip ist das Auswendiglernen. Drei strohblonde Lehrerstöchter in altmodischen bunten Kleidern und Kopftüchern zeigen den Gästen Fibeln und Hefte. Alles ist in altdeutscher Schrift geschrieben - als ob die Zeit vor hundert Jahren einfach stehengeblieben wäre.

Nur wenige Kilometer trennen diese Zwergschule von der modernen Schule in Blumenau. Beide gehören zur Mennonitenkolonie. Doch liegen Welten dazwischen. Jahrhundertelang hat die friedliebende, etwas verschroben wirkende Religionsgemeinschaft ihre Identität gegen Anfeindungen und Assimilierungsversuche zu verteidigen gewußt. Doch in Zeiten der weltweiten Ökonomisierung aller Lebenszusammenhänge wird das schwieriger Die traditionellen Altkolonier wollen ihre Religion durch bloßes Beharren auf Althergebrachtem bewahren. Auf die brennenden Fragen unserer Zeit fehlen ihnen die Antworten: »Ich weiß nicht, das kann ich Ihnen nicht sagen!« lautete die häufigste Äußerung des Dorfpredigers Wilhem Reimer in Steinfeld. Das ist auch der erst 1948 aus Kanada übergesiedelten »Kleingemeinde« zu engstirnig, die aber an der Kleiderordnung und anderen Traditionen festhält.