nd-aktuell.de / 31.07.1998 / Politik / Seite 12

Ver-rückte Welt

Fokke Joel

Was ist das für ein Gefühl als ^jähriges, türkisches Mädchen 1966 nach Westberlin zu kommen, ein Jahr in einem Frauenwohnheim zu leben und bei Telefunken am Fließband zu arbeiten? Wer das wissen will, sollte das Buch »Die Brücke vom Goldenen Hörn« von Emine Sevgi Özdamar lesen. Die nach Lebenserfahrung hungernde Ich-Erzählerin drückt die verdinglichende Welt, in die sie gerät, sprachlich in grotesken Metaphern aus, deren Ursprung das einfache, bildliche Denken der türkischen Frauen aus dem Wohnheim ist. Am Anfang mag das schräg und falsch klingen; aber in der konsequenten Durchführung gewinnt der Text damit überraschenderweise eine Poesie, die nicht zuletzt die Würde der Menschen wiederherstellt, die als sogenannte »Gastarbeiter« nach Deutschland gekommen sind.

Die »Ver-rücktheit« der Welt, die sich im ersten Teil des Buches sprachlich ausdrückt, setzt sich auf andere Weise im zweiten Teil fort. Die Erzählerin ist auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte für eine Schauspielausbildung in die Türkei zurückgekehrt und in eine linke, studentische Filmkommune gezogen. In der Kommune wird das Leben zum Theater

gemacht, die Gespräche der französischen Surrealisten über Sexualität werden nachgespielt. Eine Studentin verbessert als Souffleuse die Männer, die über den Orgasmus der Frau mit den Worten von Breton und Prevert aus dem Jahre 1928 diskutieren.

Aber dort, wo Özdamar die idealistischen Illusionen des türkischen Mai Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre be-

schreibt, ist die Komik nie denunzierend. Eher löst das Lachen beim sympathisierenden Leser die Melancholie über die gescheiterte Revolution. Die brutale Wirklichkeit, in der die Verwechslung des Lebens mit dem Theater endet - Militärdiktatur, Massenverhaftungen und Todesurteile - bekräftigt die Anziehungskraft der gesellschaftlichen Utopien und vermittelt das Festhalten der Autorin an Idealen der Gerechtigkeit. Emine Sevgi Özdamar hat ein spannendes Buch geschrieben, ein poetisches und nicht zuletzt ein deutsch-türkisches Buch.