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  • Politik
  • Die Solshenizyn-Biographie von Donald M. Thomas und eine hitzige Debatte unter Rußlands Intelligenz

Ein Denkmal vor der Lubjanka?

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Rußland bereitet sich langfristig auf den 80. Geburtstag Alexander Solshenizyns am 11. Dezember vor Doch während die einen den Nobelpreisträger als den geistigen Patriarchen und das lebende Gewissen des Landes preisen, werden bei anderen, vor allem in der liberalen Intelligenz, immer häufiger kritische Stimmen laut. So schrieb der Schriftsteller Viktor Jerofejew, Solshenizyn sei als Inspektor in die Heimat zurückgekommen und schleppe das ganze traditionelle Gepäck der slawophilen Ideologie hinter sich her. In seinem Essayband »Männer« verglich er das Lebenswerk des Autors des »Archipel GULAG« mit dem Kampf des Filmhelden James Bond gegen den Totalitarismus. Eine heftige Diskussion löste der Publizist Oleg Dawydow aus, der im Mai in der »Nesawisimaja gaseta« Solshenizyn als einen »Dämon« charakterisierte, der sich zwar große Verdienste erworben, aber stets rücksichtslos an seiner Karriere gearbeitet habe.

Vielleicht kommt die Solshenizyn-Biographie von Donald Thomas gerade zum richtigen Zeitpunkt, um der Debatte mit handfesten Fakten entweder neue Nahrung zu liefern oder ihr den Boden zu entziehen. Der britische Schriftsteller hat sich seit Jahren intensiv mit Solshenizyns Leben und Werk beschäftigt. Seine Biographie, erst in diesem Jahr in New York erschienen und von Heddy Pross-Weerth sachkundig ins Deutsche übersetzt, stützt sich vor allem auf die monumentale Lebensbeschreibung von Michael Scammell (New York 1984), autobiographische Werke Solshenizyns wie »Die Eiche und das Kalb«, zahlreiche historische Quellen und literarische Zeugnisse sowie persönliche Gespräche mit Natalija Reschetowskaja, der ersten Frau des russischen Schriftstellers. Wie wir erfahren, wurden die Bitten des Biographen um ein Interview vom Autor abschlägig beschieden.

Thomas hat ein umfangreiches Material zusammengetragen, das er in fünf großen, zeitlich geordneten Abschnitten vor dem Leser ausbreitet. Biographische Fakten werden durch Exkurse in die einzelnen Phasen der Geschichte der So-

wjetunion und Streiflichter aus Werken anderer Autoren der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts ergänzt. Kindheit und Jugend des Schriftstellers in den Jahren von 1918 bis 1941 stehen unter der Überschrift »Oktoberzwillinge«, weil Thomas davon ausgeht, daß Solshenizyn sich in dieser Zeit enthusiastisch für die Ideen Lenins begeisterte und fest entschlossen war, einen hervorragenden Beitrag zum Aufbau der neuen Gesellschaft zu leisten. Seine später aufkommenden Zweifel an Stalin schlugen sich vornehmlich 1943 in dem Gedankenaustausch mit dem Schulfreund Nikolai Witkewitsch nieder. Die beiden jungen Offiziere spielten mit dem Feuer, als sie die Möglichkeiten eines Programms zur Verbesserung des Sowjetsystems freimütig erörterten. Die Folgen sind bekannt: Verhaftung, Arbeitslager, darunter die »Scharaschka« Marfino, die in dem Roman »Im ersten Kreis« beschrieben ist, Ekibastus, das wir aus »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« kennen, Verbannung im kasachischen Kok-Terek, Geschwulstbehandlung in Taschkent (»Krebsstation«), die Aufhebung des Ur-

teils im April 1956/ Lehrer in Torfoprodukt (»Matrjonas Hof«) und in Rjasan. Die kurze Zeit des Erfolgs nach den Twardowski zu verdankenden Veröffentlichungen in »Nowy mir« und die Jahre des verzweifelten Kampfes gegen die erneut erstarkende Zensur schildern die Abschnitte »Neue Welten« und »Feindseligkeiten«. Der letzte endet mit der Ausweisung Solshenizyns aus der Sowjetunion im Februar 1974. Acht KGB-Männer begleiten den »Verräter« auf dem Flug nach Deutschland, wo ihn Heinrich Böll erwartet. Was Thomas über die Ak-. tivitäten von Willy Brandt, Egon Bahr und Wjatscheslaw Keworkow sowie über die Reaktionen der sowjetischen Führungsspitze schreibt, liest sich wie ein Krimi, wird aber auch durch den Band »Akte Solshenizyn« (Berlin 1994) bestätigt.

Die Darstellung des fast 20jährigen Exils in den USA und der Zeit nach der Rückkehr 1994 läßt erkennen, daß der Biograph seinem Gegenstand durchaus auch kritisch entgegenzutreten vermag. So verweist er darauf, daß die idealen Arbeitsbedingungen, die Solshenizyn sich in den Vermonter Jahren zu Lasten seiner

zweiten Frau Alja und seiner Schwiegermutter geschaffen hatte, seiner Kreativität nicht unbedingt zum Vorteil gereichten. Er saß 15 Jahre lang jeden Tag und fast jede Stunde des Tages an dem Riesenwerk »Das rote Rad«, trug eine Fülle historischer Fakten zusammen, konnte jedoch die ästhetische Spannung seiner früheren Werke nicht mehr erreichen. »Er erinnert an den Mönch Pimen in Puschkins Drama >Boris Godunow<, der in seiner Zelle Geschichte um Geschichte, Legende um Legende niederschreibt, damit später ein anderer Mönch seine Chronik findet und die Wahrheit über Rußland erfährt.«

Thomas blickt eher mit den Augen des Schriftstellers als mit denen eines Wissenschaftlers auf Solshenizyns Leben und Schaffen. Das erlaubt ihm, die Programmschrift »Rußlands Weg aus der Krise« als Ideenkatalog eines »konservativen Grünen« zu bezeichnen oder die Rückkehr nach Moskau als eine Begegnung mit dem einstigen Helden, dann verhaßten Widersacher und schattenhaften Spiegelbild Lenin zu schildern. Es nimmt auch nicht wunder, daß Thomas am Ende seines anregenden Buches die Frage aufwirft, ob Solshenizyn eines Tages auf Dzierzynskis leerem Sockel vor der Lubjanka stehen wird.

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