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  • Politik
  • Trisha Browns »L'Orfeo« und Pina Bauschs »Herzog Blaubarts Burg« in Aix-en-Provence

Macht des Gesangs und Szenen einer Ehe

  • Joachim Lange
  • Lesedauer: 5 Min.

Ballett und Oper, das ist schon lange keine selbstverständliche Liebesbeziehung mehr wie noch zu Zeiten der Grand Opera. Kommt es zu Begegnungen, dann bleiben sie heute oft Illustration oder eine mehr oder weniger wirkungsvolle Regiezutat. Wirklich überzeugendes oder in einer neuen Qualität von Bühnenkunst Integriertes wie bei Ruth Berghaus oder in den gestisch durchgestylten Inszenierungen Robert Wilsons gelingt nur selten. Um so spannender ist es, wenn sich Choreographinnen von internationalem Rang wie Trisha Brown und Pina Bausch dem Musiktheater zuwenden. Stephane Lissner hat mit der Einladung an beide einen Programmschwerpunkt für das diesjährige Sommerfestival in Aix-en-Provence gesetzt und damit wohl eher unbewußt die Problematik der Beziehung von Oper und Ballett demonstriert.

Die New Yorkerin Trisha Brown hatte mit Monteverdis »L'Orfeo« dabei durchaus die weniger schwierige Karte gezogen, denn die Geschichte vom liebenden Sänger L'Orfeo, der den Göttern seine Geliebte durch seinen Gesang abtrotzt und dann doch wieder verliert, läßt sich als »äußere« Handlung erzählen. Trisha Brown aber ist mit ihrer Inszenierung

für das Theatre de la Monaie in Brüssel, die sie in Aix vorstellte, auf nicht mal sehr hohem tänzerischen Niveau gescheitert. Vor dem Hintergrund der beliebigen Lauf- und Ringelreih-Arrangements des Chores und der ihn doppelnden Tänzer, die den ersten Teil bestimmten, wirkte auch ihr technisch verblüffend umgesetzter Einfall des scheinbar schwerelos schwebenden Engels mehr wie eine angeheiterte Biene Maja. Es wurde ohne Frage exzellent gesungen (besonders der Orfeo Simon Keenlyside bestach durch seine kantable Geschmeidigkeit), und Rene Jacobs musizierte hinreißend mit dem Concerto Vokale. Überzeugende Bilder gelangen aber nur wenige. Am ehesten noch im zweiten Teil, wenn die Tänzer nicht auf der Bühne sind. Nach dem süßlichen Bild vom golden strahlenden Apollo am Himmel, das wie ein Kartengruß aus Hollywood wirkte, war mit dem interpretatorischen Einfall, beide Schlußfassungen der Oper hintereinander zu zeigen (Orfeo als Sternbild und von den Furien zerrissen) auch nicht mehr viel zu retten.

Dem Festivalpublikum kam diese gefällige Beliebigkeit allerdings mehr entgegen, als die herausfordernde, zweite Auseinandersetzung Pina Bauschs mit Bela Bartöks »Herzog Blaubarts Burg«. 1977 lieferte diese Oper zum ersten Mal das Material für eine rein tanztheatralische Auseinandersetzung Pina Bauschs .

mit dem Stoff - es wurde ein Tanzstück mit collagierter Musik vom Tonband. Und obwohl beides nicht vergleichbar ist, ist es natürlich in Aix ein Stück auch von Pina Bausch geworden. Diesmal aber im strengen Korsett der Opern-Partitur. Pierre Boulez, der sich die Bausch als Partnerin gewünscht hatte, läßt die Musik mit dem Gustav Mahler Jugend-Orchester meisterhaft differenziert aufleuchten. Und auch der Gesang von Violetta Urmana (die als Kundry in Götz Friedrichs Parsifal an der Deutschen Oper begeisterte) und Laszlö Polgär, einem Blaubart par excellence, bot Mustergültiges. Daß es am Ende dieser Aufführung im Theatro de l'Archeveche eine ziemlich gespaltene Aufnahme beim Publikum für die regieführende Choreographin gab, spricht zumindest für das hohe Festivalniveau ihrer Auseinandersetzung mit dem Stoff.

Auch wenn man gerade bei Bartöks Einakter (wie beim Tristan) die Frage nach Bedarf und Möglichkeit der szenischen Veräußerlichung innerer Vorgänge stellen kann und die motorisch sparsame, sehr zurückgenommenen Interpretationen etwa von George Tabori in Eindhoven oder de Keersmaeker in Brüssel großen Eindruck machen, so bleibt auch eine »Höroper« an die Szene gebunden. Und daß es bei Pina Bausch statisch und bewegungsarm zugehen würde, konnte man wohl nicht erwarten. Filmeinblendungen, über den ohne Musik getanzten

Prolog hinaus, der strenge, leicht perspektivisch verzerrte weiße Bühnenraum, in den Peter Pabst nur eine lange weiße Bank im Bühnenhintergrund plaziert hat, vier Paare und Jan Minarik (der Blaubart aus dem Wuppertaler Stück) als eine einzelne Figur nehmen tänzerisch den inneren Weg Judiths und Blaubarts aufeinander zu und voreinander weg auf. Die beiden Sänger bewegen sich nicht nur mit traumwandlerischer Sicherheit durch den ungarischen Text Bela Baläzs' und die Partitur Bartöks, sondern auch durch die Szene Pina Bauschs: Sie erzählt ihre Geschichte von einem Mann und einer Frau in Bildern entlang der Türen in Blaubarts Schloß. Diese Türen werden nicht geöffnet, sie sind nicht da, wohl aber öffnet sie Türen in der Vorstellungskraft der Zuschauer. Da bleibt mal größerer mal kleinerer Spielraum. Durch die assoziative Methode werden sie zu Stationen, zu musikalisch vorgegebenen Projektionsflächen für mitunter sogar hektisch getanzte, immer aber spannungsvolle und phantasiereiche Bilder. Manchmal auch für Bilder von großer Schlichtheit ohne die Tänzer. Etwa wenn die fünfte Tür geöffnet wird, der ganze Machtbereich Blaubarts vor Judiths Fü-ßen liegt und sie den Gipfel ihrer Partie ansteuert: Bei ihrem strahlenden stimmlichen Ausbruch,, mit dem sie in Bewunderung erstarrt, kauert sie verängstigt an

der Wand. Blaubarts sichtbare Macht war zu körpersprachlicher Bedrohung geworden. Er hatte sich auf sie gestürzt. Neben dieser Brechung des hohen Tones durch die schlichte Geste, erzielt Pina Bausch auch in den Einfällen, die auslegen und verdeutlichen, große Wirkung. Wenn Judith etwa mit ihren drängenden Fragen beginnt, bewegt sich Blaubart langsamen Schrittes über die Bühne. Zu seinen Füßen wie ein verwundetes Tier, mit den Zähnen seine Hosenbeine fassend und ihn sacht stoßend, die Tänzerin Julie Shanan. Besonders die Ambivalenz von Nähe und Ferne, von Anziehung und dem Versuch Abstand zu wahren, findet man tänzerisch gut umgesetzt. Man zieht sich gegenseitig die Stühle weg, klammert sich aneinander, aber die gemeinsame Bewegung der Paare mündet in ein Wegkippen kopfüber nach hinten. Zwischen den Paaren: Jan Minarik vielleicht als alter ego Blaubarts, manchmal als Spielführer vielleicht auch nur eine Reminiszenz, sozusagen die personelle Brücke zur Blaubart-Auseinandersetzung der 70er Jahre? Das läßt auch hier Raum für eigenes Weiterdenken. Und vielleicht auch zum Weiterarbeiten?

Pina Bausch hat die Oper im doppelten Wortsinn bewegend von der Geschichte Judiths und Blaubarts zu einer Geschichte von Männern und Frauen heute geweitet. Mit den choreographisch überzeugenden Einfällen, die ihre Company tänzerisch wunderbar umsetzte, liefert sie keine bloße Bebilderung, wohl aber Schlüssel für Räume im Nachdenken über die Einsamkeit und eine Sehnsucht nach Nähe, die nicht gleich mit Selbstaufgabe der eigenen Person einhergeht.

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