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Fremde Blicke

  • Jochen Reinert
  • Lesedauer: 4 Min.

Kein noch so schöner Essay von Friedrich Schorlemmer oder Chaim Noll könnte uns besser porträtieren als dies Dorothee Wenner mit ihren Außen-Ansichten von 26 in Deutschland lebenden Ausländern getan hat. Sie, die oft schon 15, 20 Jahre an Spree oder Rhein siedeln, breiten amüsiert oder stirnrunzelnd ihre Erfahrungen mit dem hiesigen »Urvolk« aus.

Da sind freilich manche guten dabei, die respektvoll oder auch mit einer Prise Ironie vermerkt werden wie die sprichwörtliche Pünktlichkeit oder Genauigkeit. Aber weit aufschlußreicher sind jene, die die Fremden mit Erstaunen oder gar Entsetzen aufnehmen: den kalten Individualismus (»hier sind alles Einzelkämpfer«, meint die Burmanin); die Unfähigkeit zur Kommunikation und zum Lachen

(das mißfällt besonders der Kanadierin); die mangelnde Bereitschaft, Konflikte anderer bewältigen zu helfen und verzeihen zu können (was dem Guinesen aufgestoßen ist). Bei deutschen Männern fällt der Peruanerin sogleich der Grönemeyer-Song zum Thema ein.

Der Argentinierin wiederum ist die obsessive Reiselust der Deutschen unheimlich: »Sie sind ständig auf der Suche nach Erfahrungen, die ihnen bestätigen, wie gut es ihnen geht.« Der Inder wiederum kritisiert, von einem Ausländer aus der Dritten Welt würden lediglich Informationen über dessen Heimat erwartet, die Analyse der deutschen Gesellschaft »wird einem allerdings nicht mehr zugemutet«.

Interessant nicht zuletzt die Reflexionen über die Sturzgeburt deutsche Einheit. Für den Angolaner sind nach 1989 »in ganz Deutschland die Klassengegensätze offensichtlicher geworden«, und der arbeitslose Türke möchte gar, »daß in Deutschland wieder alles so wird, wie damals, als die Grenzen noch zu waren«. Eine junge Frau aus Burundi sieht sich in Ostdeutschland »angestarrt wie eine Außerirdische«, kann aber dem

»Internationalismus der MTV-Generation« auch nicht viel abgewinnen.

Das Geheimnis dieses kurzweiligen wie aufschlußreichen Bändchens wird im Nachwort enthüllt: Die Filmemacherin und Publizistin Dorothee Wenner, übrigens auch Autorin dieser Zeitung, zählt alle diese 26 Ausländer zu ihren Bekannten, andernfalls hätten sie sich nicht derart geöffnet.

Eine ähnliche Perspektive bietet der Band »Fremde AugenBlicke«, mit dessen Zusammenstellung die Münchner Germanistin Irmgard Ackermann Neuland beschritt. Hier begegnen uns Pioniere der hiesigen Migrantenliteratur wie Aras Ören, Franco Biondi, Gino Chiellino und Yüksel Pazarkaya, deren deutschsprachige Texte eine Brücke zwischen der einheimischen und der eingewanderten Bevölkerung bilden können - Texte, die sich nicht zuletzt mit dem schwierigen Leben in Deutschland auseinandersetzen. Darüberhinaus begegnen wir Autoren wie Cyrus Atabay, Rafik Schami, Jiri Grusa, Laszlo Csiba oder Yoko Tawada. Es ist eine erstaunlich selbstbewußte und formal oft anspruchsvolle Literatur, die in die-

sem Landesteil weithin unbekannt ist - mit Ausnahme vielleicht der Gedichte des seit langem in Leipzig lebenden syrischen Chamisso-Preisträgers Adel Karasholi, der von Heinz Czechowski vorgestellt wird. Vieldeutig-eindeutig Karaholis Gedicht »Der Käfig«: »Stube/ Fensterlos/ Die darin wohnen/ Ordnen die Welt/ Nach ihrem Ausblick.«

Hoffnung auf globales Miteinander spiegelt der als Sohn spanischer Gastarbeiter nach Deutschland gekommene Jose Oliver-»könnte sich versöhnen das kreuz des/nordens mit dem kreuz des Südens könnte sich überkreuz/ vertöchtern das kreuz des Südens mit dem des/ nordens. wolkenflug aus Zärtlichkeiten, könnte/wortkreuz wort könnte.« Der für die Auslandsinformation eingerichtete Band verdiente es, einen deutschen Verlag zu finden.

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