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»Gerd ist aufm Pferd«

Schröder am Ziel - nehmen Sozialdemokraten angekündigten Politikwechsel in Angriff? Von Helfried Liebsch

  • Lesedauer: 6 Min.

Die Würfel sind gefallen. Das Ergebnis läßt eigentlich nichts mehr offen. Rechnerisch reichte es knapp für eine sozial-ökologische Reformregierung. Daß aus Deutschland eine rotgrüne Republik wird, ist aber nicht wahrscheinlich, das Gespenst einer großen Koalition nicht gebannt.

Jubelrufe ohne Ende. »Gerd ist aufm Pferd. Gerd ist aufm Pferd«, skandierten Schröders Anhänger Peter von Oertzen, SPD-Linker und niedersächsischer Ex-Kultusminister, rief begeistert: »Auf dieses Ergebnis habe ich seit 14 Jahren gewartet.« Eben hatten die Sozialdemokraten 44,2 Prozent, die Grünen 5,5 Prozent geholt. Die erste rotgrüne Regierung war perfekt - 1990 in Niedersachsen. Ende der Rückblende.

Das am gestrigen Abend ermittelte vorläufige Ergebnis drängt den Vergleich zu dem Flächenland mit dem Pferd im Wappen auf. Nicht 14, sondern sogar 16 Jahre hat die älteste deutsche Partei auf einen Sieg bei den Bundestagswahlen warten müssen. Die Sozialdemokraten haben zudem erreicht, was noch nie eine Partei in der Bundesrepublik schaffte: eine Regierung per Wählervotum aus dem Amt zu kippen. Gerhard Schröder (54) und dem Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine (55) gelang die Rehabilitation der Generation der »Brandt-Enkel«.

Der Triumph könnte vollkommen sein: Ein Regierungswechsel, der mit einem Politikwechsel einhergeht, wie er von der SPD versprochen wurde und von einem rot-grünen Kabinett erwartet wird. Seit Monaten schon trommelten die Bündnisgrünen für einen Angriff auf die Macht am Rhein, Ministerposten vor Augen. Namentlich Parteisprecher Jürgen Trittin, der schon mal als »Außenminister« in Schröders Landesregierung saß. Die Hoffnung, daß der Ministerpräsident von der Leine sich für eine sozial-ökologische Wende entscheidet, ist in der SPD groß. Es wird Druck geben, damit aus dem ganzen Sieg kein halber Regierungswechsel wird, kein Bündnis mit den Verlierern.

Natürlich grünen nun die Machtträume der Grünen. Erwachsen aus dem Wahlsieg die Kraft und der Mut, sich zu

einem sozial-ökologischen Reformprojekt anzuschicken, die beim jahrelangen Hokken auf den harten Oppositionsbänken ausgebrüteten Alternativen mal zu probieren? Zumal unterdessen - nicht ganz ohne Verschulden von Vertretern beider Parteien - der Wunschzettel der Menschen immer länger geworden ist. Wirksame Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit - es fehlen acht Millionen Arbeitsplätze und Hunderttausende Lehrstellen. Schaffung von Steuergerechtigkeit im Land der Einkommensmillionäre, die sich grundgesetzwidrig verhalten (»Eigentum verpflichtet«), wenn sie kaum noch Steuern zahlen, Otto Normalverdiener aber zur Kasse gebeten wird. Sicherung der Renten; nicht von ungefähr macht die PDS darauf aufmerksam, daß die SPD bei der Realisierung ihres Wahlversprechens - Rücknahme der Absenkung des Rentenniveaus von 70 auf 64 Prozent - nur mit ihrer Unterstützung rechnen kann. Reform des Gesundheitssystem, der Weg in die Zwei-Klassen-Medizin ist zu verlassen ...

Ganz zu schweigen von den ökologisch begründeten Forderungen. Von der Hinterlassenschaft der Kohl-Jahre jedenfalls

ist eine gerechte Republik so weit entfernt wie der Augiasstall von einem OP-Saal. Anderthalb Jahrzehnte hatte die Union obendrein einen kleinen Partner, dessen segensreiches Wirken unter der neoliberalen Losung stand: »Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht.«

Weiter gefragt. Sind Gerhard Schröder und der zum Joseph aufgestiegene Joschka Fischer, sind Oskar Lafontaine und Jürgen Trittin, Herta Däubler-Gmelin und Kerstin Müller die großen Umsteuerleute? Schon die Berufung des sozialdemokratischen Schattenkabinetts mit schier ausnahmslos Frauen und Männern, die dem rechten Parteiflügel zugeordnet wer den, beantwortet die Frage. Vorläufig.

Trotzdem - das Ergebnis läßt darauf schließen, daß Schröder die Stimmen des linken Flügels bekommen und in der Mitte gepunktet hat. Es gibt die Mehrheit links von Union und FDP in Deutschland - Willy Brandts Orakel hat sich erfüllt.

Schröder war von den Wahlkämpfern der Union nicht zu packen. Es gelang nicht, ihn wenigstens als landespolitischen Versager darzustellen. Der hämische Reim des niedersächsischen CDU-Spitzenkandidaten Christian Wulf »Kin-

Foto: dpa

der blöder Wirtschaft öder Diebe schnö-der Gerhard Schröder« zog nicht. »Kohl muß weg«, hieß es allenthalben. Das dürfte den Ausschlag gegeben haben.

Für Schröders wahrscheinliche Entscheidung, auf die Grünen und die Union zuzugehen, kann allenfalls als Entschuldigung angeführt'werden, daß er mit einem Herbststurm gegen ein Reformbündnis rechnen muß. Wind wurde schon unmittelbar vor den Wahlen gemacht, als Banker bei einer rot-grünen Bundesregierung einen Kurseinbruch an der Börse voraussagten. Für den Fall einer PDS-Duldung kündigte ein Aktienhändler in Frankfurt am Main an: »Dann können wir uns warm anziehen und in Deckung gehen. In diesem Fall sehe ich den Dax weit unter 4 000 Punkte fallen.«

Gerhard Schröder ist am Ziel, er wird das Land über die Jahrhundertschwelle ? führen. In Hannover regierte er nur Vier Jahre unter Zuhilfenahme des grünen Ju- ; niorpartners, danach mit SPD-Mehrheit.^-Trüge die Bonn-Berliner Übergangsfö-?' sung Rot-Schwarz, wäre sie jahrelangem Geiselverhalten der Sozialdemokraten geschuldet. Brandts »Mehr Demokratie wagen« scheint ohnehin im Gefängnis so-

zialdemokratischen Kleinmuts, postenheischender Anpassung und ideologischer Verklemmtheit dahinzusiechen.

Die gängigen Rückblenden tauchen die großkoalitionäre Zeit von 1966 bis 1969 in ein rosiges Licht. Eine trügerische Rückschau. Im Lande rumorte es. Die Notstandsgesetze traten ins Leben, ein Teil der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion votierte gegen die Vorlage der eigenen Regierung. Schon 1966 wäre die Bildung einer sozialliberalen Koalition rechnerisch möglich gewesen, allein, die SPD-Spitze scheute das Risiko. Am Ende verbuchte sie als großen Erfolg, den Makel der »ewigen Oppositionspartei« lösgeworden zu sein. In Kauf genommen wurden erhebliche innerparteiliche Probleme, namentlich mit den jüngeren Parteimitgliedern - den Jusos.

Ironie der Geschichte: Die großen, sich über Jahre hinziehenden Auseinandersetzungen gipfelten 1977 im Rausschmiß des Juso-Chefs Klaus Uwe Benneter aus der Partei. Nachfolger an der Juso-Spitze wurde ein Kollege des Berliner Rechtsanwalts mit Namen Schröder Gerhard Schröder Dem pragmatischen, ideologisch unbelasteten Niedersachsen gelang es, die Wogen wieder zu glätten.

Die Entscheidung für oder gegen eine große Koalition wird den Intentionen des vielbeschriebenen Raufbolds Schröder folgen, der schon eine Führung der Gesellschaft »im Konsens« propagierte, als er noch gegen den SPD-Kanzlerkandida--- ten Rudolf Scharping intrigierte. Im Zweifelsfalle wird sich Schröder nicht für Farben, sondern für Machtfülle entscheiden - allerdings (noch) nicht gegen Oskar Lafontaine, dem er am Abend noch einmal ausdrücklich dankte. Er weiß auch, daß eine große Koalition möglicherweise genau das verhindert, was sie zu ermöglichen scheint. Beispiel Steuerreform: Verhindert die Berücksichtigung der Klientelinteressen nicht einen großen Wurf in Richtung soziale Gerechtigkeit?

Antworten werden jetzt im Kabinett, im Parlament - und auf der Straße geschrieben. Im nachhinein scheint die Erfurter Erklärung, scheint die Demonstration vom 20. Juni in Berlin »Aufstehen für eine andere Politik« wie die weitsichtige Vorwegnahme einer Reaktion auf das Wahlergebnis. Rot-Grün braucht gesellschaftlichen Rückenhalt, Rot-Schwarz au-ßerparlamentarischen Druck.

Der große französische Philosoph Rene Descartes hat seinem Hauptwerk einen Leitgedanken gegeben, der Karl Marx so gut gefiel, daß er ihn zu seinem Lebensmotto kürte: »De omnibus dubitandum« , - an allem sei zu zweifeln. Vergessen Sie also alles, was vor der Wahl geredet und geschrieben wurde. Schon Adenauer kümmerte sich nicht um sein Geschwätz von gestern. Nun ist Schröder dran.

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