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  • Kultur
  • MESSE-THEMA SCHWEIZ: Sieben Bücher von vielen

Abschied von der Idylle

  • Jean Villain
  • Lesedauer: 5 Min.

lin sehr genau um diese Dinge weiß, ist deutlich spürbar Nur befrachtet er seine glänzende Ausgangsidee leider mit allzu vielen Nebenkonflikten, die den Handlungsablauf eher verschleppen.

»Vor uns die Sintflut« - der Erzählungsband von Urs Widmer strotzt geradezu von skurrilen Geistesblitzen. Deren hintergründiger, oft alles andere als »lustiger« Witz gilt den Aberwitzigkeiten unserer atemlos dahinrasenden Zivilisation. So einer keineswegs erfundenen Sekte, deren Anhänger ihren Zukunftsängsten mittels kollektiven Selbstmords zu entkommen hoffen. Oder einem Musikstar, der als neuer Orpheus seine Eurydike aus dem Hades zurückholen will. Auch er verliert sie auf dem Rückweg, doch nicht durch den verfrühten Blick zurück, sondern weil er die Geliebte im unterweltlichen Gedräng der Gleichgesichtigen nicht erkennt. Widmers Kommentar: »Erst vor kurzem ist die Sehnsucht abgeschafft worden ... Wir haben die Taschen voller hochwirksamer Medikamente, mit denen wir das leiseste Unbehagen in uns auf der Stelle bekämpfen, deren einzige Nebenwirkung ist, daß wir auch ein unverhofftes Glück nicht spüren.«

Erica Pedretti: Kuckuckskind oder Was ich ihr unbedingt noch sagen wollte. Roman. Suhrkamp 190 S., geb., 36 DM. Jürg Acklin: Der Vater Roman. 180 S., geb., 35 DM; Christoph Geiser-Die Baumeister Roman. 240 S., geb., 38 DM. Beide Nagel & Kimche. Urs Widmer- Vor uns die Sintflut. Geschichten. Diogenes. 160 S., Leinen, 32DM. Sylviane Chatelain: Das Manuskript. Roman.

eFeF-Verlag Bern. 200 S., geb., 36DM. Alberto Nessi: Die Wohnwagenfrau. 120 S., geb., 28 DM; Daniel de Roulet. Double. 200 S., geb., 34 DM. Beide Limmat.

Mit am besten gefiel mir die Story »Wir sind das Volk«, in welcher der Autor selbiges mal kurz in seine Einzelteile zerlegt. Als da sind: »Junge, Alte, Städter, Dörfler, Dicke, Dünne, Dumme, Kluge, Arme, Reiche, Gesunde und Kranke...« Was dabei unterm Strich herauskommt, ist genau jene höchst widersprüchliche, vielschichtige und vor allem vielgesichtige »Bevölkerung«, die schon Brecht dem »Volke« vorgezogen hat!

Schwerer tut sich in ihrem Roman »Das Manuskript« die französischsprachige Sylviane Chatelain mit unserer Zivilisation. Formal handelt es sich um ein Endzeitkatastrophen-Tagebuch. Nelly, eine Lehrerin, berichtet, wie unheimliche Wesen ihre Stadt unterwandern, wie sie vor ihnen auf ein »Hochplateau« flieht, im Anwesen ihres toten Freundes, eines Literaten, prekäres Asyl findet und dort auf ein unvollendetes Manuskript stößt. Eine der darin vorkommenden Figuren ist sie selber, eine weitere ist ihre alsbald sich einfindende Rivalin. Zwei Frauen also, die denselben Mann geliebt und ihn verloren haben und nun versuchen, das Leben des Verstorbenen zu rekonstruieren, sich dabei belauern, sich ineinander spiegeln. Ein Spiel, das nur so lange möglich ist, wie hinter den Borgen alles ruhig bleibt. Doch eines Tages okkupieren die geheimnisvollen Invasoren auch das »Hochplateau« ...

Am deutlichsten klingt Sylviane Chatelains ansonsten verschlüsselte Absage an derzeitige gesellschaftliche Ver hältnisse in dem Satz an: »Diese Welt - wäre es nicht eine immense Erleichterung, ein Rausch beinahe, sie zusammenbrechen zu sehen?«

Als grundsolider realistischer Erzähler erweist sich der Tessiner Alberto Nessi mit seiner Geschichte von der »Wohnwagenfrau«. Tosca, die uneheliche Erstgeborene einer Fabrikarbeiterin, wächst in miefigen Waisenhäusern auf, gerät als junge Frau nach Zürich, wo sie tagsüber schuftet und abends am Konservatorium singen lernt. Sie verliebt sich in einen »Maestro«, der sie nach Italien mitnimmt und im Chor von Provinzopernhäusern unterbringt. Nach seinem Tod strandet Tosca als Hausiererin in einem Tessiner Hochtal, lebt ihre Musikalität an der Orgel der Dorfkirche aus, verdreht dabei dem Priester den Kopf, kommt ins Gerede und schließlich ums Leben. - Eine fast unzeitgemäß romantische Geschichte, die aber deutlich macht, wie sehr die italienische Oper - das Leben als permanente musikalische Tragödie, bestenfalls als Tragikomödie - das Weltbild und die Emotionalität südlicher Bevölkerungen nach wie vor beherrscht.

Ganz anders dagegen Christoph Geiser in seinem neuen Buch »Die Baumeister«! Als Entrce die stark homoerotisch geprägte Beschreibung einer Sadomaso-Folterszeno, wie sie Giovanni Battista -Piranesi auf dem einen oder anderen seiner »Carceri«-Blätter skizziert hat. Oben das Gewimmel der Arrivierten. Unten die Verdammton aus der »geborstenen Hölle«, heraufdrängend. Ihre Parole: »Durchkommen« - und sei's

um den Preis eines Verrats, etwa eines Abschwörens des »bösen Wahns, eine schöne neue Welt zu bauen«, wie es im Klappentext heißt. Allerdings erzähle der »Roman« auch vom Menschen, »eingekerkert in seine Phantasien«. Dies ist nicht erst seit heute Geisers eigentliches Thema, nun aber scheint es ihn for mal bis an den Rand des erzählerisch Möglichen getrieben zu haben, hinein in eine eigentlich literarisch-sprachmusikalische Eruption. Deren geheime Leitmotive: Ein apodiktisches »gar nichts ist sicher«, gefolgt vom verzweifelten Ausruf »Es gibt den richtigen Weg nicht. Das ist der Kerker!«

Mag sein. Weit mehr beschäftigte mich beim Lesen aber die Frage, weshalb Geisers Welt so weglos geworden ist. Immerhin legte er zu Beginn seiner literarischen Entwicklung mehrere scharf gesellschaftskritische Romane vor, die auch in Ostdeutschland stark beachtet wurden. Auch solidarisierte er sich mit denen, die statt in den Kerkern ihrer Phantasien, in denen der realen Polizei oder ihres materiellen Elends steckten. Dennoch, ein Buch, das man nicht einfach weglegt. Zu brillant das von assoziativem Sprachwitz genährte Dauerfeuerwerk, das da vor einem zappendüster gewordenen Horizont hochgeht. Zu verwirrt auch die Reaktionen der bürgerlichen Literaturpäpste darauf. Vielleicht ein Buch für Insider?

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