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  • Kultur
  • STEPHAN KRÄWCZYK und GRIT POPPE über DDR-Zeiten

Verletzungen

  • Michael Sollorz
  • Lesedauer: 3 Min.

sich der Autor (Jahrgang 55) an seine Kindheit, das Sterben seines Vaters, der im Uran-Bergwerk geschuftet hat. Das war von großer sinnlicher Kraft und Zärtlichkeit. Eine Sache des Herzens. »Bald« dagegen wirkt ausgedacht, versammelt zu viele Schrullen und Putzigkeiten, neben denen, selten aus ihnen heraus, sich allzu mählich die Geschichte entspinnt. In ihr ist vieles aus jenen Jahren zu finden. Humorlosigkeit, Enge, Trägheit, Anpassung. Daß diese Stimmung aufersteht, verdanken wir zum großen Teil der Sippe des Anti-Helden, allen voran dem bigotten Schwiegervater Kirchenältester im Ort. Krawzcyk kennt seine Pappenheimer Zu lesen, wie sie reden, ist wieder wunderbar - Und dann tut es plötzlich doch weh. Wenn man sich erinnert, wie verdreht alles war Der Aufmüpfige wurde gedeckelt. »Hab dich nicht so«, hieß es, »wir wollen doch bloß unsere Ruhe.« Am Ende ist Roman Bald sehr allein. Kein Aufbruch, kein Ausbruch. Noch.

Stephan Kräwczyk: Bald. Roman. Verlag Volk & Welt. 360 S., geb., 39,80 DM. Grit Poppe: Andere Umstände. Roman. Berlin Verlag. 300 S., geb., 36 DM.

Was Krawczyks Titel suggeriert, mündet bei Grit Poppe in »Andere Umstände«. Die Leute gehen auf die Straße und lassen sich den Slogan vom Volk im Munde umdrehen. Es folgt die knirschende Implosion der DDR, der Rest ist bekannt. Vor zehn Jahren veröffentlichte Grit Poppe (Jahrgang 64) in der Zeitschrift »Temperamente« eine Geschichte. Darin wird Simone von ihrer Freundin mitgenommen ins Ausländerwohnheim, liegt mit dem Algerier Ali auf dem Bett, läßt ihn aber nicht ran und fährt wieder heim. Der Text war damals ein bißchen unerhört, aufrichtig und klar, Alis gesunde Direktheit, daneben das Mädchen, verstrickt in Sehnsucht und Scham.

Wenigstens die schöne Lakonie ist noch da in Poppes

erstem Roman. Mila Rosin, eine nägelkauende junge Frau mit dicken Schenkeln, wünscht sich ein Baby Au-ßerdem bringt sie Männer um, zunächst den angehimmelten Lehrer, später ihren ersten Liebhaber, weitere folgen. Sie sitzt mit einer Leiche im Auto und wundert sich: »Warum mußte ausgerechnet ich ihn töten?« Das fragt sich der Leser auch. - In der Gegenwartsebene, mit Baby im Arm, wähnt sich Mila von der Mutter eines Opfers verfolgt, ist auf der Flucht und stellt fest: »San Francisco existiert wirklich.« Kulisse, wie auch die Wende, von Mila wahrgenommen wie durch Watte. Meist lauscht sie auf ihr inneres Raunen. Aber man staunt, wenn sie den Blick hebt. Eine Montags-Demo, Mut und Wut und das Beschwichtigen: keine Gewalt. Plötzlich ist sie nicht mehr das autistische Naivchen. Klare Worte: »Im übrigen war ich der Ansicht, daß diese Regierung und ihre Schnüffler einen blutigen Abgang verdienten.« Was ist ihr pas-

siert? Wir ahnen es höchstens, wenn überhaupt.

Wo Kräwczyk eine Geschichte gestrickt hat, die ihm geeignet schien, von tiefer Verletzung zu erzählen, wob Grit Poppe Schleier um Schleier. Sie verhüllen Erlittenes, doch dabei bäumen sich die Schmerzen von unten gegen die Zeilen, ohne in ihnen Gestalt zu finden. Eine

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fen, und die andern sowieso. Auch ihr Vater, der in den Westen ging, und den sie nach dem Fall der Mauer wiedersieht - ein Fremder

»Ein ungewöhnlich witziges« Buch verspricht der Ver lag. Doch Poppes Sub-Text ist Ohnmacht; die Deckel halten das grad noch zusammen, und man kommt unwillkürlich auf die wenig witzige

Idee, daß in der alten Hoffnung, Unerträgliches möge abfließen können, zwei Tätigkeiten verwandte Züge tragen: Töten und Schreiben.

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