nd-aktuell.de / 07.10.1998 / Kultur / Seite 6

Was vergeht, was bleibt

Irmtraud Gutschke

nicht verdrängen dürfe. Und trotzdem - oder gerade deshalb - ist der Tod weit weg. Schrei in der Ferne. Vielleicht auch immerwährendes Erschrecken, aber das wird versteckt. Die allgemeine Betriebsamkeit verträgt keine Störung.

»Es ist Zeit weiterzugehen«, sagt die Mutter in Ted van Lieshouts Buch. Sie will den 15 Geburtstag ihres Sohnes auf eine besondere Art begehen: im Garten ein gro-ßes Feuer anzünden und alles, aber auch alles verbrennen, was in Marius' Zimmer war »Ich brauche seine Sachen nicht, um jeden Tag an ihn erinnert zu werden ... Ich will keinen Wallfahrtsort in meinem Haus. Ich mache ein Bügelzimmer daraus.« Das kann sie doch nicht tun, denkt da der Leser, der eigentlich gar nicht urteilen dürfte, weil er von dieser Frau nichts weiß. Niemand kann in den anderen hineinschauen. Aber es ist offenbar schwer zu akzeptieren, wie unterschiedlich sich Menschen verhalten, wenn sie schwer getroffen sind.

Ted van Lieshout. Bruder Roman. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler 173 S., geb.,

29 RO DM

»Das ist meine Art von Abschied nehmen«, verteidigt sich die Mutter »Und was ist mit meiner Art?«, fragt ihr Sohn. Luuk, 16 inzwischen, ist der Ich-Erzähler in diesem Buch. Er ist erschrocken, daß

im Haus etwas verändert werden soll - wohl deshalb auch, weil er selber sein Leben weiterführen wollte wie bisher. Aber hier wird nicht gedeutet und nicht geurteilt, wie es jemand machen würde, der sich erst über den Intellekt in diese Situation hineinversetzen muß. Hier wird Reagieren lediglich registriert, auch das macht die Echtheit des Buches aus.

Ein Kunstgriff mag die Sache mit dem Tagebuch gewesen sein. Luuk holt es sich aus Marius' Zimmer, damit es die Mutter nicht verbrennen kann. Aus dem Einfall, zwischen die Zeilen zu schreiben, ergibt sich ein faszinierender Dialog. Denn die Notizen des Bruders entsprechen Luuks Erwartungen nicht. Ja, anfangs kommt es ihm so vor, als ob ihm der Tote einen Vorwurf machen würde: zu wenig Aufmerksamkeit, zu wenig Vertrauen. Als sie noch zusammen waren, hätte Marius dem Bruder gern sein Geheimnis anvertraut, aber Luuk ging ihm aus dem Weg. Weil er Angst vor Offenheit hatte, sich selbst nicht preisgeben wollte.

Aber man kann doch über alles reden, höre ich manche Leute sagen. Pustekuchen! Nicht nur um das Verborgene geht's, sondern auch darum, daß eine komplexe menschliche Wahrheit unwillkürlich vereinfacht, verfestigt und verfälscht wird, wenn man sie in Worte bringt. Was keinem Zweifel unterliegt, ist Güte, Liebe. Die hat mitunter

merkwürdige Gestalt. Als Marius als kleiner Junge zum Beispiel mit dem Silberbesteck zum Zigeunerlager rannte, weil er glaubte, seinen Luuk freikaufen zu müssen. Und als Luuk dem kranken Bruder einen Kranz flocht...

Das Leben ist kurz. Da sollte man »zusammig« sein, so eine Worterfindung von Marius, solange man's noch kann. Auch denkt man beim Lesen daran, wie seltsam die großen Dinge mit den banalen Kleinigkeiten zusammenspielen. Es ist ein weises Buch. Das Unabänderliche wird nicht weggeredet. Das Absolute ist der Schmerz: »Ich kann nicht einfach hinauslaufen und mir einen neuen Bruder suchen, geschweige denn, daß ich einen finden würde«, denkt Luuk. Ob er, alleingeblieben, sich überhaupt noch Bruder nennen kann - diese Frage ist weitreichender, als man auf den ersten Blick merkt. Es geht um persönliche Identität, um Vergängliches, Veränderliches und Bleibendes. »Wenn es wahr ist, daß mit dir der Bruder in mir gestorben ist, dann ist es ebenso wahr, daß mit mir der Bruder in dir noch lebt.« Junge Leute gibt's, die wissen erstaunlich viel über Leben und Tod, haben ihre Gedanken noch nicht in Kistchen gepackt.