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  • Kultur
  • REINHARD WOSNIAK: »Morbus«

Dämonen

  • Mario Wirz
  • Lesedauer: 3 Min.

Selbst Kunstbanausen wissen inzwischen, daß »Genie und Wahnsinn« irgendwie zusammengehören, und daß sich, auch ohne diese extreme und spektakuläre Dialektik, die meisten Künstler und ihre Werke den Maßstäben vermeintlicher Normalität entziehen. Nicht jeder Künstler endet als Selbstmörder wie Vincent van Gogh oder Gerad de Nerval, nicht jeder landet im »Irrenhaus« wie Antonin Artaud oder Edvard Munch, doch ob sie nun Baudelaire oder Strindberg, Schubert oder Kirchner heißen, ihre Werke scheinen inspiriert von Krankheit und Unglück. Legenden und phantastische Anekdoten spinnen sich um die europäischen Künstlerexistenzen der letzten Jahrhunderte, nüchterne Analysen und Thesen von Kunsttheoretikern und Psychiatern, doch immer triumphiert das Rätsel, dem sich Kreativität und schöpferische Produktivität verdanken.

Der 1953 in Frohburg/ Sachsen geborene Schriftsteller Reinhard Wosniak, der 1990 mit dem Roman »Stilicho« debütierte, liefert in seiner aufregenden und auch beunruhigenden Essay-

sammlung »Morbus. Eine Krankheit in Europa« keine fertigen Antworten und Diagnosen. Wie schon in seiner deutsch-deutschen Frühlingsgeschichte »Sie saß in der Küche und weinte« (1995) und dem Novellenband »Pietä« (1996) beweist er auch in seinem neuen Buch literarische Sensibilität und Phantasie und die Bereitschaft, nonkonforme Positionen mit Leidenschaft und Eigenwilligkeit zu vertreten. Solidarisch und behutsam beschreibt Wosniak den gesellschaftlichen und biographischen Käfig der Künstler zwi-

Reinhara] Wosniak: Morbus. Eine Krankheit in Europa. Essays. Mitteldeutscher Verlag Halle. 253 S., brosch., 34,80 DM.

sehen Markt, Macht und Manie und ihre unterschiedlichen oder ähnlichen Bewältigungsstrategien, individuelles Leiden durch Kreativität und Kunst zu überwinden.

»Also sind Leiden und Erfolg, Anpassung und Ausbruch, Eskalation und Wahnsinn, Sucht und Therapie, Zorn und Suizid die ungleichen Dämonen der vom Morbus artificum Befallenen, der besessenen Seher Sind es nur böse Geister?« Die Essays von Reinhard Wosniak bleiben im Tonfall von Frage und Zweifel. Sie verfolgen die Spuren von Angst und Aufbegehren, Ehrgeiz und Empfindsamkeit im Leben und Werk diverser Künstler, von Rosso Fiorentino über Michelangelo bis Strindberg und Schubert, die stellvertretend für alle Nichtgenannten »den roten Faden aufzeigen, der über Jahrhunderte aus der Möglichkeit in die gesehnte Wirklichkeit führen könnte«. Kreativität ist nicht nur Privileg und »Krankheit« der Künstler, die in der Spirale von Kunst und Kommerz, Individualität und Normüberforderung oft scheitern. Sie ist das zeitlose Dilemma und gleichzeitig eine Chance für all diejenigen, die nicht im Einklang mit Konvention und Zeitgeist leben. Deswegen ist »Morbus« auch eine heilsame Lektüre für Nichtkünstler -»Denn irgendwo da draußen, und zugleich tief in uns drin ist er, der Zaubergarten, wir waren alle schon mal da, doch wir haben uns den Rückweg verstellt mit all dem nützlichen Jahrtausendmüll.«

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