nd-aktuell.de / 07.10.1998 / Kultur / Seite 13

Fakten kontra Fiktion

Wolfgang Küttler

Universität Cambridge, ist hierzulande“ durch sein Buch »Im Schatten Hitlers. Historikerstreit und Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik« (dt. Ausgabe 1991) bekannt geworden. Gleichermaßen »aus der Erfahrung des historischen Forschens wie des Lehrens« und angesichts der verbreiteten Krisenstimmung, Ängste und kritischen Anfälligkeit der Historikerprofession unternimmt er es, »dem historischen Denken einen Weg durch die Dickichte und Minenfelder der postmodernen Debatten zu bahnen«. Er streitet gegen den extremen Relativismus der radikalen

Richard J Evans: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis. Campus Verlag, Frankfurt (Main) /New York 1998. 288 S., geb., 48 DM.

Postmodernen, will aber zugleich die Angebote zum Überdenken herkömmlicher Positionen »für die künftige Praxis der Geschichtswissenschaft« annehmen (S. 9).

In einer Einleitung, die den aktuellen Zustand der Historie skizziert, und acht Kapiteln erörtert er die wichtigen Grundfragen der Geschichtsmethodologie, beschäftigt

sich mit dem Aussagewert der Quellen, der Ursachenforschung, dem Verhältnis von Gesellschaft und Individuum, der Beziehung zu Macht und Politik und schließlich mit den Grenzen der Objektivität.

Evans wendet sich gegen alle Intentionen, die Geschichte als Realität auszulöschen und in bloßen Texten verschwinden zu lassen, die Historiographie überhaupt in das Reich der fiktiven Literatur und schönen Künste zu versetzen und die Objektivität von Fakten zu leugnen. Besonders verwiesen sei auf die Erörterung des Dilemmas, in das der pure Relativismus der

(S. 9) dürfte für immer obsolet sein; wenn es zu einer neuerlichen Synthese kommt, dann auf bedeutend höherem konzeptualen Niveau. Shapins Ansatz ist, die Wissenschaft als ein bis in ihre intimsten kognitiven Sphären hinein gesellschaftliches Unternehmen aufzufassen (S. 19): Als ein Moment der mit dem Zusammenbruch der Feudalordnung verbundenen »permanenten Krise« (S. 145) der europäischen Gesellschaft und ihrer Bewältigung baute sich als zukunftsträchtiger Trend in der Wissenschaftspraxis eine methodisch regulierte Polarität und rekursive Kopplung von Empirischem und Theoretischem auf, die die stabile Produktion verläßlichen, entpersönlichten Wissens von der Natur ermöglichte und damit der Wissenschaft eine den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen angemessene Funktionsqualität verlieh...

radikalen Postmoderne ungewollt gegenüber der rechtsextremen Behauptung der Auschwitzlüge geriet, die nämlich, wenn alles nur Text und Fiktion sein soll, auch nicht mehr zuverlässig zu widerlegen wäre (S. 123 f). Aber Evans weiß auch die neue Hinwendung zum Individuellen, zu scheinbar Marginalem und Alltäglichem wie schließlich zur Bedeutung der Sprache zu schätzen, die von den neuen Ansätzen ausgeht. Unter den wichtigen Richtungen in der Historiographie erhält bei Evans der Marxismus, allerdings allein der westliche, den gebührenden Platz. Der Brite selbst folgt dem Konzept eines gemäßigten Pluralismus, das die Vielfalt der Ansätze und Sichtweisen akzentuiert, aber an der Realitätsbeziehung historischer Erkenntnis als unverzichtbarer Grundbedingung festhält.