nd-aktuell.de / 07.10.1998 / Kultur / Seite 14

Blutige Ordnung

Werner Müller

Das Jahr 1923 assoziiert für die meisten Zeitgenossen oder Spätergeborene den Begriff Inflation, erscheint vielen als eine Zäsur in der Geschichte der Weimarer Republik wie in der deutschen Geschichte überhaupt. Doch betrifft das nur die ökonomische Seite? Der Frage ging der Ostberliner Geschichtsprofessor Hans Krusch nach. Er schildert das Vorgehen der Reichsregierung gegen die im Herbst 1923 in Sachsen und Thüringen gebildeten Linksregierungen aus Sozialdemokraten und Kommunisten unter der Ministerpräsidentschaft der Sozialdemokraten Dr Erich Zeigner und August Frölich. Die Reichsregierung, ein Kabinett der Großen Koalition (mit SPD) unter Gustav Stresemann (DVP), hatte bereits seit ihrem Amtsantritt

Hans Krusch: Linksregierungen im Visier Reichsexekution 1923. GNN-Verlag, Scheuditz 1998. 204 S., geb., 25,80 DM.

Mitte August die linkssozialdemokratischen Regierungen in Dresden und Weimar, toleriert von den Kommunisten, fest im Visier Als dann im Oktober 1923 in Sachsen wie in Thüringen auch KPD-Vertreter Regierungsverantwortung übernahmen, sah Stresemann »rot« und setzte die Reichsexekution in Marsch. Die Reichswehr, die eigentlich die Verfassung zu verteidigen hatte, sollte in verfassungswidriger Weise »Ordnung« schaffen.

Detailliert beschreibt

Krusch diese Vorgänge vor 75 Jahren und verweist auf Konsequenzen. Erstens: Die Linksregierungen vom Okto-

ber 1923 in Sachsen und Thüringen waren Beispiele für eine konstruktive Aktionseinheit von Sozialdemokraten und Kommunisten. Ihr Scheitern war nicht einer Kluft SPD/KPD geschuldet, sondern dem offenen Verfassungsbruch durch die Reichsregierung und den sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, Zweitens: Die Reichsexekution 1923 gegen Sachsen und Thüringen belegte die Mißachtung der Herrschenden, d. h. der entscheidenden Teile des deutschen Finanzkapitals, gegenüber proklamierten Grundsätzen der Demokratie, wenn es um die Einschränkung ihrer Vorherrschaft ging. Krusch wertet 1923 als ein Vorspiel jener Ereignisse, die zehn Jahre später zum Ende der Republik führten