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Mit der DDR ging die Arbeit weg

Dank Grenze einst blühende Landschaft und heute Randlage: Wefensleben Von Marcel Braumann

  • Lesedauer: 5 Min.

Heute begänne das 50. Lebensjahr der DDR, wenn es sie noch gäbe. Daß der zweite deutsche Staat nicht mehr existiert, ist dort am augenfälligsten, wo er sich vom ersten abgrenzte - das Leben an der Grenze vor und nach der Wende zieht jetzt als Ausstellung nach Bonn.

Einst Arbeitsstelle vieler Wefenslebener DDR-Grenziibergangstelle Marienborn, 1979 aus-westlicher-Vogelperspektive

Foto: dpa

Aus der GüSt wurde eine Gedenkstätte, aber was passiert mit Wefensleben (Bördekreis), nachdem sich der Standortfaktor PKE aufgelöst hat? Letzteres ist die abgekürzte Paßkontrolleinheit, die an der Grenzübergangsstelle (GüSt) Marienborn Dienst tat, wo seit dem 13. August 1996 ganz offiziell der deutschen Teilung gedacht wird. Und Wefensleben ist ein Bördedorf, das in den 70er Jahren dank Ansiedlung von rund 1000 in Marienborn Beschäftigten auf 3800 Einwohner anschwoll, von denen nun 2800 übriggeblieben sind. Mit der deutsch-deutschen Grenze und ihrer bedeutendsten Übergangsstelle verschwand auch das Sperrgebiet, jene fünf Kilometer breite Zone, deren Ostrand beinahe Wefensleben berührte.

Chris-Silke Fischer kam 1985 in jenes Neubaugebiet, in dem neben den Leuten der Paßkontroll- und Zolleinheiten auch Arbeiter der Ziegelei und Beschäftigte des nahen Atom-Endlagers Morsleben angesiedelt wurden. Frau Fischer übernahm die Stelle als Bibliothekarin, organisierte zum Kindertag ein großes Fest und kümmerte sich um Jugendliche auch übers Bücherverleihen hinaus. Heute sei die Bibliothek ein soziokulturelles Zentrum, schwärmt Juliane Epp von der Jugendbildungsstätte des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, in ... Peseckendorf. Stimmt, sagt Frau Fischer, das sei ihre Antwort darauf gewesen, daß während der Wende in der Schule die Arbeitsgemeinschaften wegfielen und die Heranwachsenden plötzlich als einzigen Treffpunkt die Straße hatten.

In Frau Fischers Wirkungsstätte entstand 1993 unter den Jugendlichen das Projekt, Eltern, Nachbarn und andere Dorfbewohner über das Leben an der Grenze und die Nachwendezeit zu befragen. Frau Fischer suchte nach professionellem Beistand und einem Geldgeber, und so kamen Frau Epp und die Pesekkendorfer Einrichtung ins Spiel. In mehrjähriger Arbeit entstanden die Ausstellung »Auf Spurensuche... Erinnerungen an das Leben an der Grenze. Beispiel: Wefensleben-Marienborn«, ein Buch über Wefensleben und ein Videofilm. Die

Ausstellung wird ab kommenden Mittwoch in der Bonner Landesvertretung von Sachsen-Anhalt zu sehen sein. Längst ist »aus dem ehemaligen Grenzgebiet eine Nahtstelle des Austausches von Ost und West geworden«, sagt Frau Epp.

»Die Zahl der Medikamente ist gestiegen. Vorher hatten wir 10 000, jetzt ein Vielfaches davon«, erfuhren die Jugendlichen in der Apotheke. »Früher hatten wir die Preise im Kopf, und jetzt gibt es 14tägig neue Preislisten, die wir über Disketten erhalten.« Früher - das war eine unkompliziertere Zeit ohne lästigen Überfluß. Aber wenn es insgesamt fünf Jahre dauerte, bis das Gebäude für die Apo-

theke hergerichtet war, wurden die Nerven ebenso auf eine harte Probe gestellt: »Inzwischen hatten wir uns schon einen einfiammigen Kocher besorgt, so daß nicht nur der Tauchsieder zum Erwärmen des Wassers benutzt werden konnte«, vermeldet das Brigadebuch von 1977/78 erste Erfolge.

»Wefensleben hätten die Enten zugeschissen, wenn wir nicht gekommen wären«, pflegte ein Hauptmann der PKE zu sagen. Viele von denen sind in ihre ursprünglichen Heimatorte zurückgezogen, gekommen sind Bürger aus Magdeburg und dem Hinterland, die in Helmstedt oder Braunschweig Arbeit gefunden haben und pendeln. In die Gegenrichtung ziehen die Pächter aus Niedersachsen, die jene Höfe bewirtschaften, deren Besitzer das Land nach der Wende von der

LPG zurückbekamen, aber aus Altersgründen nicht mehr beackern mochten.

Schon in den 50er Jahren, erinnert sich ein Malermeister, ging der Trend westwärts: »Wer zum Einkaufen oder zur höheren Schule wollte, ist nach Helmstedt gefahren. Man hatte sein Konto in Helmstedt. Mit dem Zug war man ja in zehn Minuten da. Nach Magdeburg fuhr kaum jemand. Das war für uns dann schlecht, als die Grenze kam.« Als die Grenze dank PKE dem veralteten Ort Modernisierung bescherte, mokierte sich mancher über eine Zweiteilung: Die Besserverdienenden mit der Extraverpflegung Obst und Gemüse in schicken Neubauwohnungen

und gutausgebauter Infrastruktur, die anderen im heruntergekommenen Ort, der zu verfallen begann.

Doch das Gemeinschaftsleben war auch vorm Zweiten Weltkrieg gespalten, erzählen die Alten: Die einfachen Leute feierten mit dem Arbeitersportverein, die begüterten Einwohner und die Beamten aus der Kolonie blieben unter sich. Vom Neubau zu DDR-Zeiten profitierten dagegen letztendlich alle Dorfbewohner - zwei Schulen, zwei Kindereinrichtungen, eine Turnhalle und ein Einkaufs- und Dienstleistungszentrum verbesserten den Lebensstandard. Die Patenbrigade der Ziegelei hielt durch Arbeitseinsätze die Kinderkombination »Wilhelm Pieck« in gutem Zustand, woran sich die befragte Kindergärtnerin gern erinnert. Außerdem »war früher auch nicht alles schlecht, was

getan wurde. Die Kinder wurden musikalisch erzogen. Das war eine sehr schöne Sache, und sie wurden zur Ordnung und Selbständigkeit erzogen. Das kollektive Leben wurde gefördert. Und die Plätze waren kostenlos.«

Das Gedenken ans Kollektive ist ambivalent: Ehemalige LPG-Mitglieder schimpfen auf den Zwang »vom Ich zum Wir« und schwärmen zugleich vom »Brigadeleben«. Die 18 Jugendlichen des Projekts schrieben über ihre DDR-Kindheit zusammenfassend: »Vor der Wende war es für Kinder schöner.« Jetzt »sitzen die meisten zu Hause vorm Fernseher oder Computer Nur wenige spielen noch drau-

ßen wie wir früher«. Wozu Helmstedt heute gut ist, hat Tischlermeister B. erfahren: »Unser Sohn ist in Helmstedt richtig mit reingewachsen in diese Ellenbogengesellschaft.«

Der parteilose Bürgermeister Eckhard Thiele wünscht eine Fortsetzung der Ausstellung, die von der Gemeinde gefördert wurde. Sie selbst liege leider zu weit von den Zentren entfernt, die Fünfgeschosser-Plattenbauten seien immer schwerer zu vermieten. Das Verhältnis von Wohnbevölkerung zu Arbeitsplätzen passe nicht mehr, »wie auch immer man über damals denkt«. Der frühere LPG-Vorsitzende sieht den Systemwechsel praktisch: »In der DDR gab's keine Schweinepest mehr Das ist eine Frage der Hygiene. Alle Krankheiten, die es bei uns nicht mehr gab, sind heute wieder da.«

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