nd-aktuell.de / 08.10.1998 / Politik / Seite 14

Der Fluch des Rückzugs in die Einsamkeit

Von Astrid Volpert

Gottesacker am See« wird das Gebiet des dem Bodensee zugehörigen Untersees von Einheimischen und Touristen genannt. Idyllische Orte wie Singen, Moos und Gaienhofen mit ihren jungsteinzeitlichen Siedlungsresten sind paradiesisch zwischen Wiesen und Wälder gebettet. Ein Lebensraum von Bauern, Fischern und Winzern. Zu ihnen gesellten sich um die Jahrhundertwende zeitweilig Künstler wie der frisch verheiratete Hermann Hesse und sein Dichterfreund Ludwig Finckh. In den 30er fahren verschlug es auch fanatische Großstädter an diesen Flecken unweit der Schweizer Grenze, allerdings unfreiwillig. Es waren Sachsen, darunter die berühmten Dresdner »Menschen-Erfasser« Otto Dix, Hugo Erfurth und Brücke-Mitbegründer Erich Heckel.

Doch anders als ihre Vorgänger verfluchten sie den Rückzug in die Einsamkeit, der sie aus dem Kunstleben ausschloß und ihrer Lebensgrundlage beraubte. Der Kunstfonds des Freistaates Sachsen widmet jetzt, unterstützt vom Hermann-Hesse-Höri-Museum Gaienhofen, dieser Thematik eine Ausstellung. In der Dresdner Galerie Mitte, deren Chefin Karin Weber das Projekt realisierte, sind bis Mitte Oktober bisher wenig bzw überhaupt nicht bekannte Werke von neun sächsischen Künstlern zu sehen, die in ihrer späten Schaffensphase am Bodensee entstanden. Sie stammen aus dem Besitz von Erben, privaten Sammlern sowie des schon genannten Museums und der Dresdner Galerie Döbele.

»Dix und Erfurth«, urteilt der Heidelberger Dix-Forscher Dietrich Schubert, »dies war ein spannendes Kapitel der Geschichte des modernen Sehens in den Jahren 1920-33;« Aber 1933 wurden die i Werke des einen, eine imponierende Galerie geistiger Physiognomien, von den

Nazis als »Spiegelbilder des Verfalls der Kunst« im Dresdner Rathaus gebrandmarkt. Dies geschah vier Jahre, bevor die Richtlinien »entarteter« Kunst öffentlich gemacht und deutsche Museen »bereinigt« wurden. Von Dix beschlagnahmte man 260 Arbeiten, darunter die Gemälde »Kriegskrüppel« und »Schützengraben«. Aus dem Lehramt an der Kunstakademie entlassen, verließ er die Residenzstadt und kam zunächst auf Schloß Randegg bei Singen unter, bevor er in das Höri-Dorf Hemmenhofen zog. Prominentenfotograf Hugo Erfurth ging 1934 von Dresden nach Köln. Nach Kriegszerstörung seines Ateliers dort blieb ihm bis zu seinem Tod 1948 in Gaienhofen nur ein kleines Studio für Paßfotografie. Dorthin zog es nach dem Krieg auch Sohn Gottfried, als Maler einst Meisterschüler von Albiker und Kokoschka. Er stand vor einem Neubeginn, denn sein bisheriges Werk war durch Bombardements zerstört. Die Ausstellung zeigt filigrane Bleistift- und Kugelschreiber-Zeichnungen surrealer Welten aus den 60er Jahren. Des Vaters Landschaftsaufnahmen vom Bodensee ergänzen punktuell das Spektrum seines u. a. durch die Retrospektive Anfang der 90er Jahre gut aufgearbeiteten CEuvres.

Für Max Ackermann (1887-1975) und für Herbert Vogt (geb. 1908), den einzigen noch lebenden dieser Künstler, können Werke aus verschiedenen Jahrzehnten nachgewiesen werden. Für beide ist es zudem nicht die erste Präsentation nach der Wende in Dresden. Ackermann, der in Weimar und Dresden studierte, kunstgeschichtlich aber Stuttgart zugeordnet wird, verknüpft in den gezeigten Bodensee-Motiven figurale Elemente mit Abstraktem. Der aus dem Erzgebirge stammende Vogt, der sich an der 1. Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung 1946 beteiligte, bevor er zwei Jahre später Dresden verließ und 30 Jahre als Kunsterzieher am Bodensee tätig war, zeigt Gemälde von strengem Bau und ex-

pressiver Leuchtkraft der Farben. Weitaus unbekannter sind Walter Herzger (1901-1985) und Gertraud Herzger von Harlessem (1908-1989) sowie WEL alias Walter Eberhard Loch (1885-1979). Das Maler-Ehepaar Herzger war vor allem der Halleschen Kunst zugehörig, wo er als einstiger Bauhausschüler bis 1933 die Graphischen Werkstätten der Burg Giebichenstein leitete. Beide pflegten in den 5Oer/60er Jahren eine ruhige, beschauliche Malerei, die sich an Themen und Dingen des Alltags festhält. Tierbilder oder Titel wie »Spargelschälen« und »Frauen im Ginster« sind deutliche Verweise auf Rückzug und Abgeschiedenheit.

Die Erinnerung an WEL, den heute wohl unbekanntesten Höri-Sachsen, wird Dresdner Kunstfreunde am meisten freuen. Ermöglicht die Begegnung mit seinen Zeichnungen und Grafiken doch zugleich eine Würdigung legendärer Ausdruckstänzerinnen wie Mary Wigman. Bevor WEL Mitte der 20er Jahre nach Dresden kam, lehrte der gebürtige Breslauer Maler an der Akademie seiner Heimatstadt. Während sein Wirken an der Elbe besonders mit der von Edmund Kesting begründeten Kunstschule »Der Weg« und seiner Nähe zum boomenden modernen Tanz verbunden ist, versucht WEL am Bodensee sich den Gegebenheiten anzupassen. Realistische Porträts von Ortsgrößen und Landschaften geben seinem Schaffen eine andere Richtung.

Auf ein inspirierendes Fachpublikum oder gute Ausstellungschancen konnte damals auf der Höri keiner bauen. So sind die jetzt nach Dresden wiedergekehrten Arbeiten WELs Relikte einer vergessenen Biographie, die Neugier auf Vervollständigung weckt. Burkhard Stege, Direktor des Hesse-Höri-Museums, der zur Eröffnung nach Dresden kam, hat längst Feuer gefangen, die Herkunft »seiner« Künstler auch kulturgeschichtlich näher zu beleuchten. Nach dem Babylon- und Assur-Forscher Walter Andrae, der in Dresden Architektur stu-

Herbert Vogt: Stilleben mit blauer Kanne, 1977

dierte und später als Leiter des Vorderasiatischen Museums in Berlin international Ruhm erlangte, stellt Stege mit Erich Fraaß zur Zeit in Gaienhofen einen weiteren Dresdner Maler aus. So erschließt sich Stück um Stück, was der Rückzug auf die Höri bedeutete. Dix nannte es unumwunden Emigration. Er blieb der einzige, dem es nach Gründung beider deutscher Staaten möglich war, zu Arbeitsaufenthalten nach Dresden zu-

Foto: Katalog

rückzukehren. Dort realisierte er mit seinem Drucker Ehrhardt Lithographien wie das Selbstporträt von 1957 und die späten Bildnisse der Mutter. Sie gaben seinem Alterswerk noch einmal einen Impuls und Halt.