nd-aktuell.de / 09.10.1998 / Politik / Seite 13

Aktion »Tannenbaum«

Manfred Weißbecker

Ein einziges mitteleuropäisches Land blieb vom Expansionskrieg der deutschen Faschisten verschont, die Schweiz. Doch irrt, wer meint, Hitler habe deren Neutralität bzw wirtschaftliche Bedeutung akzeptiert und sei allein durch schweizerisches Wohlverhalten zur Mä-ßigung veranlaßt worden. Ebenso täuscht sich, wer da glauben machen will, die Pläne für einen Überfall auf das Land der Eidgenossenschaft wären lediglich fiktive Präventivplanungen unterbeschäftigter Stäbe gewesen. Mit solchem Aberwitz räumt Klaus Urner in seinem bereits 1990 erschienenen und jetzt erweiterten Buch kräftig auf. Anhand aussagestarker Dokumente - darunter einige bisher unbekannte, erstmals veröffentlichte - belegt er überzeugend, daß es sich sehr

wohl um Angriffskonzepte gehandelt hat, die fortlaufend revidiert, ergänzt, präzisiert und auf die jeweils verfügbaren Truppen abgestimmt worden sind.

Im Sommer und Herbst des Jahres 1940 wurden in den Stäben der Wehrmacht mindestens sechs Pläne ausgearbeitet, die jeweils eine handstreichartige Besetzung der Schweiz vorsahen. Am 4. Oktober 1940 wurden sie unter dem Stichwort »Tannenbaum« zusammengefaßt. Ihre Entstehungsgeschichte wirft aufschlußreiche Schlaglichter auf die Bemühungen der Naziführung, jede sich bietende Gelegenheit skrupellos zu nutzen. Als Frankreichs Kapitulation abzusehen war, trafen sich Hitler und Mussolini am 18. Juni 1940. Sie verabredeten, die Schweiz zu isolieren; die deutschen Truppen sollten das Gebiet entlang der Linie zwischen Basel und Genf besetzen, die italienischen das südlich gelegene Sa-

voyen. Um demonstrieren zu können, daß deutsche Truppen bereits die französisch-schweizerische Grenze erreicht hätten, wurde am 16. Juni gegen 22 Uhr der Panzerarmee Guderian befohlen: »Noch heute Schweizer Grenze erreichen. Sofortige Meldung aus politischen Gründen wichtig.« Damit begann eine Aktion, deren militärische Abenteuerlichkeit und Sinnlosigkeit auf der Hand lag: Ein gerade mal zwei Panzer umfassendes Kommando sollte in wenigen Stunden rund 80 km mitten durch französische Truppen hindurch auf den Grenzort Pontarlier vorstoßen...

Der militärische Coup gelang zwar, blieb aber bedeutungslos. Die italienischen Faschisten zeigten sich außerstande, Savoyen zu erobern. Doch für Hitler und die Wehrmachtsführung galt: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Am gleichen Tag notierte Propagandaminister Goebbels in seinem Tagebuch, erfüllt von Siegeseuphorie und maßlosem Großmachtstreben: »Die Welt wird neu verteilt, und wer sich nicht heranhält, kommt dabei zu kurz.« In den Schweizern sah Hitler nicht mehr als einen »mißratenen Zweig« des deutschen Volkes. Dankbar

griffen die SD-Berichte auf, was damals auch in der deutschen Bevölkerung gefordert wurde: Die Schweiz dürfe »bei einer Neuordnung Europas nicht übergangen werden« und sei nach dem Erfolg über Frankreich ebenfalls zu »schlukken«. Noch bis zum späten Herbst 1940 liefen die konkreten Planungen als »Sonderaufgabe« für die deutschen Truppen im besetzten Teil Frankreichs weiter Sie wurden schließlich ausgesetzt und erübrigten sich, als am 11. November 1942 auch das restliche Frankreich okkupiert wurde: Die Schweiz sah sich nun total eingekreist.

Zweifellos: Ein lesenswertes Buch, an dem nur zu bemängeln bleibt, daß weder die ebenfalls im Juni 1940 einsetzenden Überlegungen zum Unternehmen »Barbarossa« noch die unterschiedlichen Positionen in der Berner Politik ausreichend in die Darstellung einbezogen worden sind und so manche Frage zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg noch der Klärung bedarf.

Der französische Wirtschaftswissenschaftler Alain Lipietz analysiert die Krise des Fordismus, aktuelle Tendenzen kapitalistischer Vergesellschaftung und bietet Neuorientierungen für die Linke an: »Nach dem Ende des >Goldenen Zeitalters<« (Argument, 219 S., 39,80 DM)

Wenn die Männer in ihrer Schwäche trotzig in ihrer Inkonsequenz verharren, im Widerspruch mit ihren eigenen Prinzipien, dann, Frauen, setzt mutig die Macht der Vernunft den eitlen Ansprüchen auf Superiorität entgegen.« Dieser Auspruch von Olympe de Gouges unterstreicht das Anliegen des von Ruth Hagengruber herausgegebenen Bandes »Klassische philosophische Texte von Frauen« (dtv, 216 S., 24,90 DM).

Ist die »neue Kulturgeschichte« in ihren Erklärungsleistungen der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte überlegen? Dies fragt Hans-Ulrich Wehler in »Die Herausforderung der Kulturgeschichte« (C.H. Beck, 159 S., 19,80 DM).