nd-aktuell.de / 22.06.2005 / Politik

»Damit das nicht wieder vergessen wird«

Schüler aus Gelbensande bei Rostock sichern Spuren der NS-Vergangenheit

Ingrid Heinisch
Kriegsgräber als Schulfach? Kaum vorstellbar. In der Realschule von Gelbensande bei Rostock ist es Realität. Preisgekrönte Realität. Allein in der letzten Woche haben die Teilnehmer an diesem Wahlpflichtfach drei Auszeichnungen für ihr Engagement erhalten: einen der Viktor-Klemperer-Preise, eine Würdigung der Theodor-Heuss-Stiftung und den 1. Preis des Wettbewerbs der Deutschen Bahn »So mobil ist Schule«.

Ein Dankesbrief
aus Rumänien
In der Tat haben die Schüler unter Anleitung ihrer Lehrerin in den letzten vier Jahren viel geleistet: Sie halten den Lazarettfriedhof in Gelbensande in Stand und beschäftigten sich mit seiner Geschichte. Sie entdeckten ein vergessenes Grab von Zwangsarbeiterinnen und errichteten dort eine kleine Gedenkstätte. Sie haben das Außenlager Schwarzenpfost des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück ausfindig gemacht. Dort hatten Häftlinge Flugzeugteile für die Heinkel-Werke produziert. Jedes Jahr fahren die Jugendlichen ins Ausland, um dort Kriegsgräber zu pflegen. Gräber deutscher, russischer, polnischer, französischer Soldaten.
Angefangen hat alles damit, dass die Lehrerin Petra Klawitter einen Artikel über den Volksbund für Kriegsgräberfürsorge las. Und ihren Schülern davon berichtete. Sie wollte sie provozieren. Ob sie sich das vorstellen könnten: dass Jugendliche freiwillig ins Ausland fahren, nur um dort Kriegsgräber zu pflegen. Die Reaktion ihrer Schüler überraschte sie: »Das fanden sie gar nicht so schlecht. Können wir das nicht auch machen, haben sie gefragt. Ich hab dann ganz leichtsinnig gesagt: Klar können wir das machen.«
Vor fünf Jahren ist Petra Klawitter zum ersten Mal mit dem Volksbund für Kriegsgräberfürsorge nach Frankreich gefahren. Kurz darauf wurde die Gruppe auch im Inland aktiv: Am 1. Mai 1945 war nach mehrwöchiger Irrfahrt ein Lazarettzug mit 750 verwundeten deutschen Soldaten nach Gelbensande gelangt. Sie fanden endlich in dem dortigen kleinen Jagdschloss Unterschlupf und Hilfe. Das Lazarett bestand noch das ganze Jahr 1945. Auch zwei ehemalige KZ-Häftlinge wurden dort gepflegt. Die Toten wurden gleich neben dem Schlösschen beerdigt.
Um diesen Friedhof hat sich niemand mehr gekümmert, bis sich die Schüler von Petra Klawitter seiner annahmen. Sie begannen nicht nur, die Gräber zu pflegen, sondern sie besorgten sich auch eine Gräberliste und suchten nach den Angehörigen. Und tatsächlich wurden sie fündig. Sogar in Rumänien fanden sie eine Familie. Der Bruder des toten Soldaten meldete sich bei ihnen: »Als Bruder des verstorbenen Ivan Marian versuche ich einige Ihrer Fragen zu beantworten. Unsere Eltern, welche verstorben sind, hatten drei Kinder. Wir sind die einzigen noch lebenden Verwandten von Ivan Marian. Es war eine sehr große Überraschung, nach so vielen Jahren noch etwas vom Schicksal meines Bruders zu hören, dass er auf einem Friedhof begraben ist und von Menschen mit guten Seelen und Gottesglauben betreut wird. Ich hatte die Hoffnung verloren, jemals etwas genaueres vom Schicksal meines Bruders zu erfahren. Ich bedanke mich ganz herzlich für alles, was Sie getan haben.«
Die Schüler kümmern sich regelmäßig um den Friedhof. Alle zwei Wochen harken sie Laub und halten die Gräber in Stand. Seit einem Jahr pflegen sie eine zweite Grabanlage. Niemand wusste von ihrer Existenz, bis die Jugendlichen auf ihre Geschichte stießen. Es handelt sich um fünf polnische Zwangsarbeiterinnen, die neben dem Dorffriedhof verscharrt worden waren. Es gab zwar ein paar Dokumente, die auf die Toten hinwiesen, aber bisher hatte sich niemand in Gelbensande für diese Hinweise interessiert. Die Schüler von Petra Klawitter beantragten beim Volksbund für Kriegsgräberfürsorge eine Suchbohrung. Sie durften helfen und wurden nach zwei Stunden tatsächlich fündig: Sie stießen auf einen Schädelknochen mit Haaren.
Eine erschreckende Erfahrung, aber dennoch wichtig, wie Mareen Siewert meint: »Das war erschreckend, dass es so was gibt, dass die einfach verscharrt wurden, einfach reingeschmissen.« Aus diesem Gefühl heraus beschloss die Gruppe, für die unbekannten toten Frauen ein Mahnmal zu errichten: »Wir wollten«, sagt Felix Erbach, »dass die Öffentlichkeit das erfährt. Wir wollten einfach was tun, damit jemand das merkt und damit das nicht einfach wieder vergessen wird.«
So pflegen die Schüler regelmäßig zwei Grabstätten: den Lazarettfriedhof, auf dem deutsche Soldaten liegen, deren Namen sie kennen und deren Angehörige sie manchmal gefunden haben - und die Grabstätte der unbekannten polnischen Frauen. Sie haben sie der Vergessenheit entrissen. Rundherum haben sie Koniferen gepflanzt und eine Tafel aufgestellt, damit jeder zufällige Besucher weiß, dass er sich auf einem Friedhof befindet.
Woher diese Frauen stammen, darüber sind sich die Schüler nicht sicher, aber sie vermuten, dass sie Zwangsarbeiterinnen oder KZ-Häftlinge in Schwarzenpfost waren, einem Außenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück. Auch dies ist eine Geschichte, die fast völlig in Vergessenheit geraten war. Schwarzenpfost war kein kleines Lager. 1200 Häftlinge haben dort in den letzten Kriegsmonaten Flugzeugteile für die Heinkel-Werke angefertigt. Doch als sich die Schüler auf die Suche machten, waren die Spuren des Lagers vom Wald völlig überwuchert. Sie legten einen Unterstand frei, in dem sich die Gefangenen vor Bombenangriffen verbergen sollten. Außerdem fanden sie viele kleine Metallteile, die aus der Flugzeugproduktion stammen.
Im vergangenen Schuljahr legten die Schüler einen Rundgang um das ehemalige Lager an, der auf die wenigen verbliebenen Spuren aufmerksam macht. Sie haben im Kunstunterricht Skulpturen und Schautafeln angefertigt, die den Weg säumen. Auch dieses Mal versuchten sie, Angehörige und Überlebende von Schwarzenpfost zu finden. Aus Washington erhielten sie eine Liste von jüdischen Härtlingen. Sie schrieben allen und erhielten immerhin in vier Fällen Antwort. In Toronto fanden sie zwei ehemalige Häftlinge von Schwarzenpfost, die in direkter Nachbarschaft wohnten und sich bisher nicht kannten. »Wir haben dann eine Treffen vermittelt«, erzählt Petra Klawitter. »Einer hat uns sogar besucht Er war ungeheuer beeindruckt. Er konnte sich gar nicht vorstellen, dass wir uns damit beschäftigen, er hat sich immer wieder bedankt.«
Für ihr Engagement hat die Gelbensander Gruppe mehrere Preise erhalten. Jetzt in den Ferien sind sie wie jedes Jahr in einem Sommerlager des Volksbundes für Kriegsgräberfürsorge. Gerade sind sie in Tursko, einem kleinen polnischen Ort in der Nähe von Auschwitz. Sie treffen dort eine Partnergruppe aus dem Lyzeum von Goloniew im Norden Polens. Sie hat sich ebenfalls die Gräberpflege zur Aufgabe gemacht. Sie leisten dort harte Arbeit. Die Grabstellen sind vollkommen verwildert. Die Jugendlichen müssen Bäume und Gestrüpp entfernen, um die Gräber wieder zugänglich zu machen. Wer dort liegt, ob Polen, Deutsche oder Russen, das ist für sie kein Unterschied. Das merkten auch die Einheimischen, die anfangs sehr skeptisch beobachteten, was die Deutschen dort wollten. Nach einer Weile schlossen sich einige der Gruppe an und halfen.

»Freunde sind das,
richtige Freunde«
Besonders wichtig ist den Jugendlichen aber der Kontakt mit den polnischen Schülern. Sie unterhalten sich mit Händen und Füßen, sprechen meistens auf Englisch, »aber irgendwie schaffen wir es immer, uns zu verständigen. Das macht richtig Spaß«, erzählt Mareen. »Freunde sind das geworden, richtige Freunde«, ergänzt Felix. Wenn das neue Schuljahr beginnt, wird ein Teil der Jugendlichen nicht an die Schule zurückkehren, sie haben den Realschulabschluss. Petra Klawitter wird mit dem Rest der Gruppe und neuen Schülern weiter machen.
Für die Schule in Gelbensande ist es das letzte Schuljahr. Dann wird sie geschlossen. Petra Klawitter wird im Nachbarort arbeiten - auch mit den Schülern aus Gelbensande. Dort wird sie wieder das Wahlpflichtfach Gräberpflege anbieten. Sie ist sicher, dass sie genügend Teilnehmer findet. Die Schüler sind begeistert von ihrem Fach. Sie lieben es, weil sie dort selbstbestimmt arbeiten können. Und weil sie merken, wie wichtig ihre Arbeit ist.