nd-aktuell.de / 24.06.2005 / Kultur

Liebe und Tod in Kars

Friedenspreisträger Orhan Pamuk hat einen wunderbaren Roman geschrieben

Fokke Joel
Nach 15 Jahren Exil in Frankfurt kehrt der türkische Dichter Ka zur Beerdigung seiner Mutter in seine Heimatstadt Istanbul zurück. Ein Freund aus Studientagen, der inzwischen als Redakteur einer Tageszeitung arbeitet, erzählt ihm, dass sich ihre schöne Kommilitonin Ipek in der ostanatolischen Stadt Kars von ihrem Mann getrennt hat. In dieser Stadt sind eine Reihe seltsamer Selbstmorde aufgetreten. Strenggläubige junge Frauen sollen sich an ihren Kopftüchern aufgehängt haben. Ka, der nicht nur wegen der Beerdigung seiner Mutter in die Türkei gekommen ist, lässt sich von seinem Freund den Auftrag geben, über die Selbstmorde der Kopftuchmädchen zu berichten. In Wirklichkeit will er Ipek wieder sehen und sie heiraten. Während des Studiums hatte er sie immer nur von weitem gesehen. Als er ihr kurz nach seiner Ankunft in Kars seine Liebe gesteht, meint sie: »Wie kannst du dich in mich verlieben, wo du mich doch gar nicht kennst.« Orhan Pamuk, neu gekürter Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, hat als Handlungsort für »Schnee«, seinen fünften auf Deutsch vorliegenden Roman, nicht ohne Grund eine Stadt sozusagen am Ende der Welt ausgesucht. In Kars, das im anatolischen Grenzgebiet zu Armenien und Georgien liegt, haben über die Jahrhunderte Türken, Russen, Armenier und Kurden zusammengelebt. Erst nach dem Ersten Weltkrieg und dem Massaker an den Armeniern wurde die Stadt türkisch, allerdings in einem von Kurden besiedelten Gebiet. Stellvertretend für die ganze Türkei treffen in Pamuks verschneitem Kars die unterschiedlichsten politischen Kräfte aufeinander. Kurdische Nationalisten bekämpfen türkische Nationalisten, die Islamisten versuchen mit der Wohlfahrtspartei, zu der auch Ipeks ehemaliger Mann gehört, an die Macht zu kommen. Und es gibt auch noch die terroristische Variante des Islamismus. Von dessen Führer, der auch in Liebesdingen ein Rolle spielt, wird nie ganz klar, ob er wirklich Morde in Auftrag gegeben hat oder dies nur die Propaganda des türkischen Geheimdienstes ist. Auch die Recherchen zu den Selbstmorden der jungen muslimischen Mädchen verkomplizieren das Bild, das sich Ka von der Stadt und ihren Bewohnern zu machen versucht. Die Islamisten behaupten, die Mädchen hätten sich umgebracht, weil sie gezwungen werden sollten, ihre Kopftücher beim Studium an der Pädagogischen Hochschule abzulegen. Aber die Eltern können sich die radikale Tat ihrer Töchter nicht richtig erklären. Mal soll es Liebeskummer gewesen, mal soll sich eine Frau umgebracht haben, weil behauptet wurde, sie sei keine Jungfrau mehr, doch alle diese Gründe scheinen für einen Selbstmord, der für die strenggläubigen Mädchen eine schwere Sünde gewesen sein muss, nicht ausreichend. Kurzum, Orhan Pamuk entfaltet in »Schnee« ein Panorama der türkischen Gesellschaft, das komplexer ist, als sich das selbst die Zeitungsleser in Istanbul vorstellen. Ka gilt am anderen Ende seines Landes nicht nur als »einer aus Istanbul«, sondern auch als »Säkularist«, der zudem auch noch in Deutschland »verwestlicht« ist. Diejenigen unter den Muslimen, die meinen, seine Gedichte enthielten den Geist islamischer Mystik, sind machtlos oder kommen in den Kämpfen in Kars ums Leben. Die »Staatsmacht«, die Laizismus und Westorientierung auch noch im letzten anatolischen Dorf mit Gewalt durchsetzt, hält ihn wegen dieser Sympathien wiederum für einen zum Islamismus konvertierten Linken. Die Liebesgeschichte von Pamuks zeitgemäßem Antihelden erinnert an die Novellen Turgenjews; die sich in Kars zur Groteske entwickelnden politischen Verhältnisse, deren Höhepunkt der blutige »Theaterputsch« eines abgestiegenen Volksschauspielers ist, an Platonows »Reise nach Tschevengur«. Letztlich aber ist bei aller Groteske und Komik, mit der Ka durch die immer undurchschaubarer werdenden Liebes- und Machtverhältnisse schlittert, »Schnee« ein melancholisches Buch über einen sensiblen Zeitgenossen, der nach seinem Glück sucht und an sich selbst und den türkischen Verhältnissen scheitert. Ein wunderbarer Roman, der vielschichtig und anspielungsreich eine zeitlose Geschichte erzählt, während er gleichzeitig den Horizont über ein Land erweitert, das zu Europa gehören wird, wie Kreuzberg zu Berlin. an Pamuk: »Schnee«, aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann. Carl Hanser Verlag. 520 S., geb., 25,90 EUR>