nd-aktuell.de / 16.07.2005 / Kommentare

Rückgriff auf Marxens Fragebogen

Operaismus - Theorie und Praxis der Arbeitskämpfe

Gerhard Hanloser
Als Antonio Negri und Michael Hardt vor fünf Jahren den Theorie-Bestseller »Empire« vorlegten, machten sie die akademische und linke Community mit einer italienischen Theorietradition vertraut, die übersetzt den etwas altbacken klingenden Namen »Arbeiterwissenschaft« trägt: den Operaismus.
Der Operaismus, in den 50er Jahren entstanden, ist eine marxistische Theorie des »Spätkapitalismus«, der vom Klassenkampf ausgeht, um das Kapitalverhältnis zu begreifen.
Nun liegen zwei Bücher vor, von denen das eine hilft, den Operaismus historisch einzuordnen und die heutige Modeerscheinung von früheren ernsthaften Versuchen einer marxistischen Erneuerung zu unterscheiden, während das andere Zentralthesen des Operaismus mit einer Weltsystemtheorie verknüpft und stark in der empirischen Sozialwissenschaft der US-amerikanischen Labor Studies verwurzelt ist.

Bruch mit den Gewissheiten
Steve Wright (»Den Himmel stürmen«) hat eine Theoriegeschichte des Operaismus geschrieben. Die wichtigsten Autoren dieser Theorie entstammen alle dem kommunistischen und sozialistischen Milieu Italiens und waren vom Leninismus und der Selbstverständlichkeit geprägt, die Arbeiterklasse für das revolutionäre Subjekt zu halten. Angesichts der stalinistischen Verkrustung der Partei versuchten jedoch einige Intellektuelle, geschockt von dem sowjetischen Einmarsch 1956 in Ungarn, jenseits der Parteiphilosophie die Arbeiterklasse selbst aufzusuchen und in ihrem Verhalten empirisch die emanzipatorischen Tendenzen frei zu legen.
Das erfolgte unter Rückgriff auf Marx' Fragebogen für Arbeiter von 1880: das Konzept der Arbeiteruntersuchung, also der schriftlichen Berichte von Arbeitern selbst über ihre Arbeitssituation. Die daran anknüpfenden ersten operaistischen Arbeiteruntersuchungen wurden in der 1961 gegründeten Zeitschrift »Quaderni Rossi« veröffentlicht, deren wichtigster und theoretisch profiliertester Redakteur Raniero Panzieri war. Er hatte sich in seinen Forschungen der Maschinerie und der Technologie gewidmet und kam zu dem Ergebnis, dass diese keineswegs neutrale Instanzen wären, sondern hielt - der Kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer nicht unähnlich - fest, dass technologische Rationalität eine Form des kapitalistischen Despotismus sei.
Damit beerbte der Operaismus wichtige Erkenntnisse des »westlichen Marxismus« und brach mit marx-orthodoxen Gewissheiten, wie zum Beispiel dem Glauben, dass allein Privatbesitz und Anarchie des Marktes überwunden werden müssten und eine kommunistische Perspektive aus der Logik der Produktion erwachsen könne.
Die Operaisten orientierten sich an den Arbeitern, die durch die fordistisch-tayloristische Massenproduktion geprägt waren. Sie kamen dabei zu überraschenden Ergebnissen. Als besonders wichtig hebt Steve Wright eine frühe Studie hervor, die bei dem Nähmaschinenhersteller Olivetti durch den marxistischen Industriesoziologen Romano Alquati angefertigt wurde. Dieser verband empirische Untersuchungsmethoden der Soziologie mit marxistischen Grundbegriffen und gelangte zu bahnbrechenden Erkenntnissen über den Arbeitsalltag in den frühen sechziger Jahren in Italien.
Die Studie zeigt, dass die jungen Techniker vom fordistischen Arbeitsalltag frustriert waren, dass aber auch die ungelernten Arbeiter am Band der Arbeit fremd gegenüberstanden. In den un- und angelernten Arbeitern entdeckten die operaistischen Theoretiker eine neue Arbeiterfigur, den »Massenarbeiter«, der im Gegensatz zu den eher berufsstolzen Facharbeitern seine Arbeit und seine Existenz als Arbeiter ablehnen würde.
Die vielfältigen Widerstandsformen gegen diese Arbeit wurden durch die Studie eindrucksvoll dargestellt. Als einen der zentralen neuen methodischen Begriffe stellt der Autor den Begriff der »Klassenzusammensetzung« dar. Mit seiner Hilfe sollte herausgefunden werden, wie aus der technologischen Produktion eine neue Arbeiterfigur entsteht und eine bestimmte Produktionsweise auch eine dazu passende Rebellionsweise hervorbringt. Diese Untersuchungen waren Bestandteil ausgiebiger Strategiediskussionen der revolutionär-leninistischen Linken in Italien.
Wright will die Geschichtsschreibung des Operaismus nicht den Richtern und der Polizei überlassen. Die wollten ab 1979 in einer für den europäischen Rahmen beispiellosen Repressionswelle italienische Intellektuelle auf Grund ihres radikalen antikapitalistischen Denkens als führende Köpfe des bewaffneten Kampfes in Italien denunzieren. Er hält sich aber auch mit Kritik nicht zurück: Die im späten Operaismus angelegte Militarisierung der Diskussionen um radikale Veränderungen werden klar benannt und nachgezeichnet.
Besonders Antonio Negri, der Zaubermeister im Erfinden neuer revolutionärer Theorien, spielte hier nach Steve Wright eine unrühmliche Rolle. Theoretisch rief er das Ende des Wertgesetzes und jeder Art von gesellschaftlicher Vermittlungen aus; auf reine Repression und Kontrolle müsse nun - so Negri Mitte der 70er Jahre - mit der entfesselten revolutionären Militanz geantworten werden.
Wright zeigt deutlich, dass sich die Operaisten von ihrem »Fabrikismus«, ihrer Beschränkung auf die große Industrie und die dort Arbeitenden, nicht lösen konnten. Der Streik stand immer als zentrales Mittel des Klassenkampfs im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Dabei kam der Lohnforderung in der Theorie der Operaisten eine eminente Bedeutung zu. Sie wollten im Lohn eine politische, gar revolutionstheoretische Größe erblicken - exorbitante Forderungen könnten den Kapitalismus in eine Krise bringen.
Es stellt sich nach Lektüre dieser Theoriegeschichte die Frage, ob der Operaismus als geschlossene Theorie nicht der keynesianisch-fordistischen Ära entsprungen ist (und verhaftet bleiben musste), als es tatsächlich einen tendenziell der Fließbandarbeit entfremdeten Massenarbeiter gab. Dass aber entscheidende Erkenntnisse des Operaismus, dieser Vermutung zum Trotz, in der neueren Forschung zum Stand der Arbeiterbewegung wieder auftauchen, zeigt das nun auf Deutsch erschienene Buch von Beverly Silver, die in einem globalen Rahmen die Arbeiterbewegungen seit 1870 untersucht hat.
Die Autorin stützt sich in ihrer Auswertung auf die Ergebnisse eines kollektiven Forschungsprojekts über Arbeiterkämpfe in den letzten zwei Jahrhunderten, die vom Fernand Braudel Center der Binghampton University durchgeführt wurden. Resultat dieses Forschungsprojektes ist die World Labor Group (WLG) Datenbank über Arbeitskämpfe. Silver konstatiert eine Krise der Arbeiterstudien, die kaum mehr fähig wären, die Macht der Arbeiterklasse zu beschreiben.
Der gängigen Vorstellung einer Zersetzung der Arbeiterbewegung und eines ständigen Kreislaufs nach unten will sie theoretisch entgegentreten. Sie bezieht sich dabei auch auf Marx. Der hat im Kommunistischen Manifest die steigende Macht der Produzenten vor Augen, die im Gleichklang mit der Entwicklung der großen Industrie wachse.
Daran anknüpfend definiert Beverly Silver verschiedene Machtformen der Arbeiter und Arbeiterinnen. Die »bargaining power« vermag gegenüber dem Kapital Arbeiterforderungen durchzusetzen und stützt sich unter anderem auf die Macht, sich zu organisieren, und auf die Macht innerhalb der Produktion.
Der Fordismus hat die Produktionsmacht der Arbeiter drastisch gesteigert, dies zeigt Silver hauptsächlich in der Entwicklung der Automobilindustrie, wo es zyklisch zu großen Arbeiterunruhen kam. Auf diese antwortete das Kapital oft mit Produktionsverlagerungen, konnte aber dem Grundkonflikt nicht entfliehen und hat ihn nur an neuer Stelle mit einer neuen Arbeiterklasse generiert.
Ausgehend von den Konflikten in der US-Automobilindustrie, zeigt Silver in operaistisch anmutender Manier, wie die Streiks und Kämpfe diese Schlüsselindustrie zuerst nach Westeuropa trieben, wie sie dort vor Streiks und Kämpfen Reißaus nahm nach Brasilien und Südafrika und schließlich nach Südkorea ging - immer auf der Suche nach weniger unbotmäßiger Arbeitskraft.

Abnahme der »Arbeitermilitanz«
Das habe jedoch die Probleme des Kapitals nicht verringert, sondern dieses nur verletzlicher gemacht. Silver konstatiert für Japan einen Sonderweg. Die neuen Produktionsmethoden hätten tatsächlich zu einer Verhinderung von Arbeiterunruhen in der dortigen Autoindustrie geführt. Der Hintergrund ist, dass die japanischen Autokonzerne als Antwort auf die anwachsende Arbeitermilitanz am Ende des Zweiten Weltkrieges von entscheidenden Momenten der fordistischen Massenproduktion Abstand nahmen: Sie gaben der Kernbelegschaft Beschäftigungsgarantien, schufen ein mehrschichtiges Subunternehmersystem und profitierten von dessen niedrigen Kosten und Flexibilität.
Eine Verallgemeinerung dieses Konzepts scheint jedoch ausgeschlossen zu sein. Silver beschreibt, dass heutzutage die Massenproduktion sich in Regionen wie in China oder Nord-Mexiko ansiedelt. Dort liegen dann auch die künftigen Felder des neu-alten Klassenkampfes. »Wohin das Kapital auch geht, die Konflikte gehen mit.«
Die Soziologin konstatiert zwar für den Beginn des 21. Jahrhunderts eine relative Abnahme der »Arbeitermilitanz«, will aber nicht angeben, ob das auf eine Steigerung oder Verringerung der Produktionsmacht zurückzuführen ist. Das Buch schließt verhalten optimistisch, ein neuer Arbeiterinternationalismus sei ähnlich wahrscheinlich wie die weitere Zunahme protektionistischer Abschottungsideologie.

Steve Wright: Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus.
Beverly J. Silver: Forces of labor. Arbeiterbewegung und Globalisierung seit 1870.
Beide Bücher erschienen bei Assoziation A, Berlin/Hamburg 2005 (je 18 EUR).