nd-aktuell.de / 11.02.1999 / Politik / Seite 3

Heftiger Streit um »Estonia«-Opfer

Mehrheit der Angehörigen will die Ruhe der Toten der Ostseefähre respektiert sehen Schweden Von Jan Poulsson

Die schwedische Regierung will heute ihre endgültige Entscheidung zur umstrittenen Bergung von Toten aus dem Wrack der estnischen Ostseefähre »Estonia« bekanntgeben.

Mehr als vier Jahre nach dem Untergang der »Estonia«, bei dem in der Nacht zum 28. September 1994 852 Passagiere zu Tode kamen, geht der Streit um die Bergung der Opfer im Wrack auf dem Meeresgrund und um die Ursachen der größten Schiffskatastrophe der Nachkriegszeit in der Ostsee weiter. Vor allem auch die Angehörigen der Toten - allein 501 aus Schweden sind zerstritten.

Die schwedischen Angehörigen schlössen sich gleich nach dem Unglück zu Interessengemeinschaften zusammen, um ihre rechtlichen Ansprüche durchzusetzen. Dies insbesondere gegenüber der Stockholmer Reederei Nordström & Thulin, die mit der »Estonia« auf der Strecke Tallinn-Stockholm das schnelle Geld zu machen glaubte, bei den Seefahrts- und

Klassifikationsbehörden und bei der deutschen Meyer-Werft, der fehlerhafte Konstruktion der beim Unglück abgerissenen Bugklappe vorgeworfen wird.

Der eine Teil der Angehörigen, der sich anfangs in der Majorität befand, forderte eine unverzügliche Bergung seiner Nächsten, »um sie würdig auf heimatlichem Friedhöfen zu bestatten«, während der andere Teil verlangte, daß man die Toten in Frieden auf dem Meeresgrund ruhen lassen sollte. Dieser Streit ist bis heute nicht abgeschlossen. Er begann damit, daß der damalige Verkehrsminister Mats Odell den Angehörigen voreilig versprach, die »Estonia« zu bergen. Wenig später wurde dieser Beschluß aus technischen und finanziellen Gründen widerrufen. Stattdessen einigten sich die Regierungen Schwedens, Estlands und Finnlands 1995 auf eine Abkommen, das dem Wrack als »geschütztes Grab auf dem Meeresgrund den Frieden garantiert«.

Zu diesem Zweck beschloß das Stockholmer Kabinett, den gesunkenen Schiffskörper mit einer Betondecke zu umhüU len. Aber als die Taucher die Lage des Wracks stabilisieren wollten, gab der Meeresboden unter dem Rumpf nach.

Daraufhin wurden die Arbeiten an dem Unterwasser-Sarkophag im Juli 1996 abgebrochen. Die Empörung der Angehörigen, die die Bergung forderten, wuchs ebenso wie die Unruhe jener, die verlangten, daß die Toten endlich in Ruhe gelassen werden.

In dieser Situation setzte die Regierung Persson wieder eine Kommission ein. Sie hatte die Frage zu untersuchen, wie die Behörden nach der »Estonia«-Katastrophe agierten und was letztlich mit den Opfern geschehen sollte. Im Abschlußbericht vom 12. November 1998 wurde empföhlen: »Es müssen Anstrengungen unternommen werden, um die Ertrunkenen in und außerhalb der >Estonia< zu bergen und zu identifizieren. Ziel muß sein, die Umgekommenen in würdiger Form zu begraben «. Doch sogleich rechneten die Experten der Regierung vor, daß die Bergung der Leichen mit Hilfe einer Taucherplattform, mit speziellen Luftdruckkammern und Taucherglocken etwa eine Million Kronen pro Tag (220 000 Mark) kosten und mindestens drefMonate dauern würde. Zum anderen sei der Zustand der Opfer derart, daß eine Identifizierung immer schwieriger

werde. Nach Schätzungen der Taucher sei es auch nur möglich, etwa 100 bis 300 der 757 noch nicht geborgenen Toten zu bergen.

Aber nach wie vor pochte ein Teil der Angehörigen auf Bergung. Doch die Medien, die bisher auf ihrer Seite standen, schwenkten um, als bekannt wurde, daß die Regierungen Estlands und Finnlands die Bergung strikt ablehnten und auf die Einhaltung des Vertrages bestanden, dem Grab auf dem Meeresgrund den Frieden zu gewähren.

»Für die schwedische Regierung gibt es jetzt wohl nur einen denkbaren Beschluß«, forderte »Göteborgs-Posten« in einem Kommentar, »die >Estonia< und ihre Opfer müssen in Frieden ruhen, der Schutz des Grabes muß respektiert und das bilaterale Abkommen (mit Estland und Finnland) eingehalten werden!«

Während sich dieser Streit dem Ende neigt, ist die Auseinandersetzung um die Ursachen der Katastrophe und den Abschlußbericht der internationalen Havariekommission vom 3. Dezember 1997 noch lange nicht beigelegt. Zwar wird es wohl'kaum juristische Konsequenzen für die Schuldigen geben, aber Seesicher-

heits-Experten sind sich darin einig, daß der Bericht, für den die schwedischen, finnischen und estnischen Mitglieder der Havarie-Kommission dreieinviertel Jahre benötigten, »keinen Schlußpunkt« unter die >Estonia<-Katastrophe setzt, betont »Dagens Nyheter«. Wenn die fehlerhafte Konstruktion die Hauptursache des Unglücks gewesen sein soll, wie im Bericht konstatiert wurde, warum hat sich die Kommission dennoch so lange getritten? Das aus Protest zurückgetretene schwedische Kommissionsmitglied Bengt Schager hatte dazu erklärt. »Die Kommission hat die Suche nach der Wahrheit der falschen Rücksichtnahme auf estnische Interessen geopfert«.

Besonders scharf ging der schwedische Seesicherheits-Experte Anders Björkman mit dem Havarie-Bericht ins Gericht. Nach Aufzählung einer Reihe von nicht erwähnten oder sogar verschwiegenen Ursachen der Katastrophe stellte er fest: »Der Abschlußbericht, ist tendenziös, zweideutig und einseitig. Er beinhaltet so viele direkte fehlerhafte Angaben, daß er wertlos ist. Ein so großes Passagierschiff sinkt nicht in weniger als einer Stunde, weil 2000 Tonnen Wasser auf das Autodeck strömen, denn es hat wasserdichte Schotten unter diesem Deck. Es muß also eine neue Untersuchung von unparteiischen Experten durchgeführt werden!« Es ist aber kaum anzunehmen, daß das von offizieller Seite veranlaßt wird.