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ebeh Rios Karneval in der Krise

Wirtschaftsprobleme und Gewalt überschatten das weltgrößte Volksfest Von Peter Feld, Rio de Janeiro

  • Lesedauer: 4 Min.

Massenenentlassungen und Preissprünge bis 40 Prozent haben die Feierlust der 160 Millionen Brasilianer arg gedämpft.

Die Maske fiel - der König ist nackt«, rufen Karnevalisten sambatanzend in den Straßenschluchten von Rio oder Säo Paulo und meinen damit Fernando Henrique Cardoso, dessen sogenanntes Stabilisierungsprogramm »Piano Real« Wochen zuvor krachend zusammenbrach. Jetzt wird der Staatschef vor allem bei Spontanumzügen der Linksparteien, Gewerkschaften und Landlosen erbarmungslos durch den Kakao gezogen. Doch vom Vorkarneval, der noch in den 80er Jahren ab Oktober ganz Rio in seinen Bann zog, war kaum etwas zu merken. Nie hatten die über 50 Sambaschulen am Zuckerhut größere Geldprobleme.

Die mit der Politik verzahnte Unterwelt dominierte zuletzt den Karneval zunehmend. Die von schwerbewaffneter Militärpolizei umstellte Parade der Escolas de Samba, die gewöhnlich auch über deutsche Fernsehschirme flimmert und Brasilienklischees fördert, ist ein scharfer

Wettbewerb. Wer einigermaßen gut abschneiden will, muß inzwischen umgerechnet weit über eine Million Mark in Allegorienwagen und Luxuskostüme investieren. Gewöhnlich übernahmen die Gangstersyndikate einen Teil der Kosten. Doch in dieser Saison waren sie nicht in Spendierlaune. 11 der besten 14 Sambaschulen wählten deshalb ihr Karnevalsmotto und den dafür eigens komponierten Samba-Enredo erstmals unter dem Gesichtspunkt potentieller Sponsoren aus - und fielen wegen der Krise auf die Nase.

So widmeten sich zwei Escolas dem benachbarten Teilstaat Minas Gerais und hofften für soviel Imagewerbung im Gegenzug auf kräftige Zuschüsse des dortigen Gouverneurs Itamar Franco und lokaler Unternehmer. Doch ausgerechnet Franco hatte wegen leerer Kassen ein Schuldenmoratorium erklärt und damit die jüngste Brasilienkrise losgetreten. Gelder für die Rio-Parade lockerzumachen, verbot sich da von selbst. Auch der Verkauf von Kostümen und Materialien zum Selberbasteln lief nur sehr schleppend, einige Spezialläden gaben, um nicht auf zuviel Masken und Glitter sitzenzubleiben, in ihrer Not teils erhebliche Preisnachlässe.

Nicht nur in Rio, auch im Ballungszentrum Säo Paulo (mit etwa ebensovielen Bewohnern wie die Ex-DDR) war

vorm vergangenen Wochenende ein regelrechter Exodus zu beobachten. Millionen wollten dem Karneval entfliehen. Entgegen allen Klischees beteiligt sich selbst in Rio de Janeiro bestenfalls ein Viertel der rund sieben Millionen Einwohner aktiv am Karneval, in Säo Paulo sind es noch weniger Von ausgelassenem, spontanem Straßentrubel kann kaum noch die Rede sein, seit Gewalt zunehmend den Alltag prägt. Allein am Wochenende vor dem Karnevalstart wurden in Säo Paulo über 80 Menschen ermordet, ein neuer Rekord. Hier hat die Polizei nach neuesten Statistiken im Vorjahr 525 Personen erschossen, 226 Beamte wurden von Gangstern getötet.

In Rio werden inzwischen mehr Menschen ermordet als in so mancher Konfliktregion - jährlich weit über 10 000. Blutbäder und Folterungen gehören zum Alltag. Seit 1986 wurden am Zuckerhut, sehr unvollständigen Studien zufolge, über 17 000 Kinder massakriert. Die Tendenz ist steigend, da das organisierte Verbrechen zunehmend Minderjährige rekrutiert und bei Gefechten mit rivalisierenden Syndikaten regelrecht verheizt.

Anfang Januar übernahm im de facto bankrotten Teilstaat Rio der neugewählte Gouverneur Anthony Garotinho von der linkspopulistischen Arbeitspartei (PDT) die Amtsgeschäfte und steht vor allem

Karnevalkönig Momo und Prinzessin

wegen der absurden Hochzinspolitik von Staatschef Cardoso vor leeren Kassen. Die den Wählern versprochene Bekämpfung der Banditenmilizen hat so vorhersehbar keine Priorität, die rund 800 Slums mit etwa zwei Millionen Menschen sind weiterhin ihr Staat im Staate. »Eine Nation ohne Namen und ohne klar markiertes Territorium«, schrieb das Nachrichtenmagazin »Isto e« kürzlich, »die Mehrheit aus ehrlichen, arbeitsamen, doch zum Schweigen gezwungenen Bewohnern wurde zu regelrechten Geiseln«.

Die Macht von Gouverneur Garotinho endet nur einige 100 Meter von seinem

Palast entfernt: Als ein Gangsterboß des angrenzenden Slums stirbt, dekretieren die Anhänger, daß zum Zeichen der Trauer auch Restaurants, Bars und Geschäfte des nahen Mittelschichtsviertels einen Tag lang geschlossen bleiben müssen. »Wer die Anweisung nicht befolgt, wird erschossen«, verkünden die Banditen mit den NATO-MPs - und alle beugen sich. Besonders zu Weihnachten und zum Karneval gebärden sich die ansonsten tyrannisch-feudalen Gangs allerdings auch wie Robin Hood, überfallen Lastkraftwagen, fahren sie in die Slums, verteilen Radios, Fernseher, Kühlschränke, Mikrowellenherde, Fleisch, Gemüse, Schnaps und Bier gratis. Wer die Gaben verweigert, verletzt das »Lei do Silencio«, das Gesetz des Schweigens jeder Favela, und muß mit Vergeltung rechnen.

Gelegentlich tut Gouverneur Garotinhos Polizei so, als sei sie zum Durchgreifen entschlossen. So wurde drei Tage vor Rosenmontag Luiz Drummond, Präsident von Rios Sambaschulen, unter dem Vorwurf verhaftet, im Vorjahr die Ermordung eines Unterwelt-Rivalen befohlen zu haben. Niemand zweifelt, daß er rasch wieder frei ist. Wegen Bildung einer bewaffneten Bande war »Luizinho« schon 1993 von der couragierten Richterin Denise Frossard mit 13 Komplizen der Sambaszene zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden. Nach drei Jahren begnadigte ihn Staatschef Cardoso. Die Richterin braucht wegen Mordrohungen seither Leibwächter und schloß sich aus Enttäuschung über Brasiliens »Demokratie« der kleinen Linkspartei PPS an.

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