nd-aktuell.de / 20.07.2005 / Politik
Die Bühnenarbeiter
Im Chemnitzer »Fresstheater« haben sich Arbeitslose selbst einen Job erfunden
Hendrik Lasch
Als Sieglinde aus ihrem Leben erzählen soll, gerät sie in Verlegenheit. Der stille Klaus hat es zum Bestattungsunternehmer gebracht, der sich dank Urnen-Aktionswochen und dem Slogan »Der Osten liegt im Sterben« sogar eine Edellimousine leisten kann. Rolf, dessen Handy nie verstummt und dem nicht nur seine ehemaligen Klassenkameradinnen zu Füßen liegen, stürmt beim örtlichen Fußballverein. Gut, nicht alle der einstigen Schüler der POS Hilbersdorf sind auf der Sonnenseite gelandet. Karin wurde ihrem zweifelhaften Ruf gerecht: fünf Kinder von vier Männern und Geld nur vom Sozialamt.
Was aber hat Sieglinde zu berichten beim Klassentreffen? Was ist geworden aus der einstigen Klassenbesten, der die Erfolge einst nur so in den Schoß zu fallen schienen? »Man kommt zurecht«, flüstert sie und nestelt an ihrem Kleid. Für einen Moment droht die ausgelassene Stimmung zwischen billigem Wein, frivolen Scherzen und einem verblassten Foto des gewesenen DDR-Staatsratsvorsitzenden umzuschlagen. Dann hat Sieglinde den rettenden Einfall: Sie sei Junior-Managerin einer 5-Sterne-Hotelkette, erzählt sie großspurig: Geld wie Heu und »kaum noch Zeit für Privates«. Punkt, Schluss, aus: »Jetzt wird gegessen.«
Einst Bibliothekarin,
jetzt Schauspielerin
Alles Theater. Die Klassenkameraden erfahren nicht, dass die schicke Sieglinde ihre Brötchen nicht in der Hotellobby, sondern an einem Bratwurststand verdient. Das Publikum, das an den Tischen im Spiegelsaal eines ehemaligen Chemnitzer Hotels sitzt, sieht es im Abspann - als letzte Pointe, nachdem die Teller abgegessen sind und die Mitglieder der Schülerband »Die Bumerangs« ihre Instrumente wieder eingepackt haben. Sieglindes Karrierebericht ist eine Inszenierung - ein Stück im Erfolgsstück, das »Klassentreffen« heißt und dem Chemnitzer »Fresstheater« seit Monaten regelmäßig ein ausverkauftes Haus besorgt.
Simone Worm hat trotzdem noch regelmäßig Herzklopfen. Die 39-Jährige spielt in »Klassentreffen« die Sieglinde. In der Rolle der großspurigen Managerin, die an ihren Klassenkameraden das ewige Gejammer der Ostdeutschen bekrittelt, überzeugt sie. Diesmal musste Worm allerdings zum ersten Mal auch singen. Nachdem beim »Klassentreffen« mit dem Alkohol- auch der Stimmungspegel gestiegen ist, werden die Hits der Abschlussfeier von vor zehn Jahren gespielt, und die alten Klassenkameraden reißen sich ums Mikrofon. Worm, die für eine Mitspielerin einspringen muss, singt »99 Luftballons« - ohne Probe. Dass ihr an einer Stelle der Text entfällt, merkt kaum ein Zuschauer: Schließlich verkörpert sie eine Managerin, keinen Schlagerstar.
Die Routine, mit der sich Worm über die Textlücke rettet, verblüfft trotzdem. Immerhin hat sie das Handwerk einer Schauspielerin nie gelernt. Den »Traum« vom Theaterspielen habe sie zwar gehegt, seit sie denken kann, erzählt Worm. Doch nach ein paar Auftritten in einem Karl-Marx-Städter Kabarett war die Bühnenkarriere beendet. Die Familie verlangte einen »anständigen« Beruf. Also wurde sie Bibliothekarin, absolvierte eine Ausbildung als Industriekauffrau, heiratete, bekam eine Tochter. Dass sie jetzt im »Fresstheater« ihren Traum doch noch verwirklichen kann, verdankt sie ironischerweise Erlebnissen, die alles andere als traumhaft waren: einer Scheidung, die sie krank machte; einem Entlassungsbrief, der im Briefkasten lag, als sie von einer Kur zurückkam. Sie habe, sagt Worm, damals »einen schweren Rucksack getragen«.
Die Erfahrung teilt sie mit allen ihren Mitspielern. Das Chemnitzer »Fresstheater« ist nicht nur originell, weil es Schauspiel mit kulinarischen Genüssen verbindet. Bemerkenswert ist auch, dass hier ein gutes Dutzend ehemals Arbeitsloser den Versuch unternimmt, sich eine eigene Existenz aufzubauen. An fünf Abenden pro Woche spielt die Truppe um die »singende Wirtin« Christine Stolper unter dem Slogan »Mundart mit Klößen« bodenständiges Volkstheater, das Familien und Arbeitskollektive zu Heiterkeitsausbrüchen, gutem Appetit und gelegentlich sogar zum Mitsingen animiert. Gleichzeitig ist das »Fresstheater« ein Unternehmen, das Arbeit schaffen soll in einer Stadt, in der viele Menschen ansonsten kaum ein Auskommen finden. »Das Arbeitsamt hatte nichts für uns«, sagt Mike Schein: »Also haben wir uns unseren eigenen Job erfunden.«
Das Licht war fast
am Ausgehen
Schein, der im »Klassentreffen« den Bestattungsunternehmer Klaus Klein spielt, steht als Komparse an der Chemnitzer Oper schon seit 20 Jahren auf der Bühne. Sein Geld aber hat der 39-Jährige jahrelang als Maler verdient - in einer Firma, die zunehmend nur noch Aufträge im Westen erhielt. Für Schein bedeutete das: Zwischen den Wochenenden bei der Familie gab es Arbeit rund um die Uhr und ein Betriebsklima, das von unerträglichem Leistungsdruck und permanentem Misstrauen geprägt war. Irgendwann zog er die Notbremse: »Das war kein Leben mehr.« Die folgende Arbeitslosigkeit allerdings war keinen Deut besser. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten habe zunehmend gelitten, ein sinnvoller Lebensinhalt gefehlt, sagt Schein: »Das Licht war fast am Ausgehen.«
Birgit Zweigler kennt solche Geschichten zur Genüge. Die Sozialarbeiterin, die im »Institut für soziale und kulturelle Bildung« in der sächsischen Industriestadt arbeitet, hat deshalb das »Theater arbeitsloser Chemnitzer«, kurz TACH, aufgebaut. Nach einem in der Schweiz entwickelten Konzept sollen die Teilnehmer mit einer Art dokumentarischem Theater ihre Situation aufarbeiten und gleichzeitig Lebensmut zurückgewinnen. Die Stücke, die in Chemnitz im Rahmen mehrerer ABM-Projekte mit knapp 100 Teilnehmern entstanden und die Titel wie »Jedes Wort ist wahr« trugen, enthielten berührende Beschreibungen persönlicher Schicksale, gleichzeitig aber erhebliche politische Sprengkraft.
Im »Klassentreffen« werden soziale Sprengsätze, die eine Gesellschaft mit Arbeitslosenquoten von 25 Prozent hervorbringt, nur angedeutet. »Hier wird Volkstheater gemacht«, sagt Andreas Zweigler - auch wenn die Stücke, für die der Chemnitzer Kabarettist die Vorlagen schreibt, alles andere als eine heile Welt zeigten. Allerdings sollen die bitteren Pillen unterhaltsam verpackt werden. Schließlich unternimmt Zweigler gemeinsam mit seiner Frau im »Fresstheater« den Versuch, die Idee des TACH in ein wirtschaftlich tragfähiges Konzept zu überführen. Es soll den Zwang begrenzter Förderung überwinden und Arbeitsplätze schaffen: Aus einem guten Dutzend Arbeitsloser wurden Bühnenarbeiter.
Ein Unternehmen wie jedes andere soll das »Fresstheater« dabei nicht sein. Um den Anspruch zu illustrieren, zitiert Birgit Zweigler den US-amerikanischen Philosophen Fritjof Bergman. In einer Theorie über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft schreibt dieser, Arbeit müsse stärker zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft aufgeteilt werden. Die »neue Arbeit« zeichne sich dadurch aus, dass Menschen zwei Tage pro Woche regulär arbeiteten, zwei Tage für »Selbstversorgung auf hohem technischem Niveau« tätig seien und zwei Tage »ihre brachliegenden Begabungen fördern«. Das sei, heißt es in einem TACH-Programm, die »Vision eines selbstbestimmten, schöpferischen Lebens«.
Spricht man mit »Fresstheater«-Schauspielern, könnte man meinen, die Vision werde bereits Wirklichkeit. »Für dieses Theater tue ich alles«, sagt Worm, die auch an freien Vormittagen im Spiegelsaal erscheint, um beim Putzen oder den Vorbereitungen der nächsten Vorstellung zu helfen.
Befreiendes Klima,
sinnvolle Arbeit
Dass die Gehälter der Schauspieler eher bescheiden sind, tut der kreativen Atmosphäre und der Möglichkeit, verschüttete Talente zu entfalten, aus ihrer Sicht keinen Abbruch. »Als Familie hatten wir viel Geld«, sagt Worm, »aber die Familie ist in die Brüche gegangen.« Jetzt reiche das Gehalt zwar nicht mehr für sommerliche Urlaubsreisen, aber »dafür habe ich ein erfülltes Leben«. Auch Schein empfindet das Arbeitsklima als befreiend. Zwar ist der Lohn auf Dauer zu gering: »Als Mann muss man schließlich die Familie absichern können.« Wie deutlich sich bemerkbar macht, dass die Arbeit als sinnvoll empfunden wird, illustriert Schein indes mit einer beinahe beiläufigen Beobachtung: »Ich war in den letzten zwei Jahren nicht mehr krank.«
Freilich: Das Chemnitzer »Fresstheater« ist keine Insel der Glückseligen. Trotz gut gefüllter Vorstellungen steht das Unternehmen auch nach zwei Jahren nicht auf eigenen Beinen. Birgit Zweigler wirkt bedrückt, wenn sie das Dilemma erklärt. Der Spiegelsaal ist wunderschön, aber zum Decken der Kosten eigentlich zu klein. In einer größeren Spielstätte aber würden sich die Besucher wohl kaum mehr als stille Teilnehmer des »Klassentreffens« empfinden. Die Karten kosten mit 32,50 Euro eigentlich zu wenig für Aufführung und Drei-Gänge-Menü, sind aber angesichts der finanziellen Lage vieler Chemnitzer und der gestützten Kartenpreise in den städtischen Theatern fast schon zu teuer. Noch helfen Zuschüsse vom Arbeitsamt über die Runden. Im Sommer laufen sie jedoch aus. Die Stadt macht bislang keinerlei Anstalten, dem ungewöhnlichen Projekt unter die Arme zu greifen.
Für das »Fresstheater« ist diese Situation alles andere als schön. Wie sagt Theo im »Klassentreffen«? Von Stütze leben zu müssen, sei »zwar keine Schande«. Aber, fügt er hinzu, »Scheiße ist es schon«.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/75237.die-buehnenarbeiter.html