nd-aktuell.de / 06.08.2005 / Reise

Mit dem Porsche und Hanni Hase auf Golddörfer-Tour

Selsingen in Niedersachsen hat nichts Spektakuläres, doch einen rührigen Verkehrsverein, der daraus viel gemacht hat

Heidi Diehl
Am Anfang stand der Wille, etwas für die Stärkung der Wirtschaftskraft in der Region zu tun. Die Lage in der Landwirtschaft versprach nicht mehr viel für die Zukunft. Und so trafen sich am 18. Juni 1968 ein paar Frauen und Männer in der Selsinger Gaststätte »Heins« und gründeten einen Verkehrsverein mit dem Ziel, sich für den Fremdenverkehr einzusetzen. Das war leicht gesagt, doch schwer zu machen. Denn keiner war ein »gelernter« Touristikfachmann. Das ist übrigens auch heute noch so. Doch was der Verein in den vergangenen 37 Jahren getan hat, um Urlauber in die Region auf halbem Wege zwischen Hamburg und Bremen zu locken, davon kann sich mancher hauptamtliche Tourismusverband eine Scheibe abschneiden. Zur Samtgemeinde Selsingen gehören acht Dörfer mit 9400 Einwohnern. Spektakuläres sucht man hier vergeblich, die Landschaft ist lieblich und flach, geprägt von gepflegten Backsteinhäusern mit Bauerngärten, es gibt Weiden und Wälder. Aus diesem »Kapital« haben die Vereinsmitglieder so viel gemacht, dass zwei Wochen Urlaub kaum ausreichen, um alles zu sehen. 180 Betten - vor allem in Ferienwohnungen - stehen den Gästen heute zur Verfügung, die meisten Vermieter bieten »Urlaub auf dem Bauernhof« an. Viele Gäste kommen seit Jahren immer wieder, erzählt Vereinsvorsitzender Lüer Schlesselmann, der im Hauptberuf Sozialarbeiter ist. Er will, wie alle 140 Vereinsmitglieder, dass die Gäste zum Abschied sagen: »Ich kam als Fremder und gehe als Freund«. Das ganze Jahr über gibt es gute Gründe, in die Samtgemeinde zu kommen. Ostern beispielsweise. Denn der Osterhase ist hier zu Hause - in Ostereistedt. Alljährlich treffen tausende Briefe aus aller Welt bei Hanni Hase ein. Allein schafft das Langohr es schon längst nicht mehr, sie alle zu beantworten. Hilfe bekommt er von den Landfrauen. Für die Kinder, die das Fest mit dem Osterhasen feiern wollen, gibt es eine besondere Überraschung. Für jedes versteckt Hanni Hase ein gefülltes handgeflochtenes Weidenkörbchen. Dafür pflanzen, pflegen und schneiden die Vereinsmitglieder Kirstin Grafelmann und Herbert Schriefer in ihrer Freizeit Weiden und flechten den ganzen Winter über Körbe. 2005 waren es 160. Eine herbstliche Touristenattraktion ist der »Kartoffeltag«. Ein Schleuderradroder, Baujahr 1952, holt die Erdäpfel ans Tageslicht, jeder Gast kann sich einen 10-Kilo-Jutesack voll sammeln und mit nach Hause nehmen. Ein kräftiges Frühstück und ein abendliches Fünf-Gänge-Kartoffelmenü machen den Tag rund. Spaß ist auch denen garantiert, die sich fürs »Moordiplom« entscheiden. Torfstechen, Holzsägen, Sackhüpfen, Reisigbesenweitwurf und Tauziehen gehören zu den Prüfungsfächern. Bedächtiger gehts bei einer Tour mit dem Porsche zu. In einem Planwagen auf weichen Polstern sitzend wird man dabei von dem Traktor aus dem Jahr 1962 durch die Landschaft geschaukelt. Eine Pause sollte man unbedingt an der Eitzter Mühle einlegen, einer um 1300 erbauten und 1997 vom Mühlenverein sanierten Wassermühle am Flüsschen Oste. An Wochenenden und Feiertagen zwischen April und Oktober öffnen die Landfrauen hier ein Café und laden zu Kaffee und Kuchen nach alten Rezepten. Gern nutzen das auch die Kanuten, die auf der Oste Wasserwanderungen unternehmen und mit einem bisschen Glück sogar einen Eisvogel oder andere seltene Tier- und Pflanzenarten sehen können. Tiere kann man auch auf der »Nutztierroute« entdecken, die der Verkehrsverein 1999 mit EU-Hilfe anlegte. Die zwei jeweils rund 40 Kilometer langen ausgeschilderten Rundkurse führen zu den Weiden mit mehr oder weniger seltenen Rassen, wie Andalusier-Pferde, Heidschnucken, Galloway- oder Dexter-Rinder, Mufflons oder Kamerun-Schafe. An allen Stationen informieren Tafeln über Herkunft und Verbreitung der Rassen. Rastplätze an den Weiden laden zum Picknick. Für ihre Gäste lassen sich die Vereinsmitglieder immer wieder was Neues einfallen. Wie beispielsweise die Grillhütte. Sie bietet Platz für rund 30 Leute, ein gemauerter Grill, Tische und Bänke sind vorhanden. Die Nutzung ist kostenlos, nur Holzkohle und etwas auf den Grill muss man selber mitbringen. Gleich daneben beginnt der »Millennium-Wald«, den die Landfrauen zum Jahrtausendwechsel pflanzten. Die 2000 Eichen wachsen inzwischen gut heran. Unweit von Selsingen gibt es eine Reihe von bekannten touristischen Highlights: Das Künstlerdorf Worpswede ist rund 40 Kilometer entfernt, bis zum Heidepark Soltau sind es 60 Kilometer, Hamburg und Bremen liegen jeweils eine Stunde weg. Wenn die »Alten« mal einen Tag ohne den Nachwuchs verbringen wollen, sorgen sich Vereinsmitglieder um die Betreuung. Das war mit ein Grund dafür, dass die Samtgemeinde 1994 Bundessieger im Wettbewerb »Familienferien in Deutschland« wurde. In Selsingen wird es Fremden leicht gemacht, sich wohl zu fühlen. Ein freundliches Wort, ein Gruß und ganz besondere Einkaufsquellen tragen dazu bei. Wer Obst, Gemüse, Blumen oder Eier übrig hat, stellt alles vor das Hoftor. Jeder nimmt, was er braucht und steckt das Geld in eine Büchse. Das sei hier so üblich, erzählt Willi Müller, 2. Vereinsvorsitzender und im »Zivilleben« Justizvollzugsbeamter. Neuerdings kann man sich auch auf Golddörfer-Tour begeben. Gold findet man da zwar nicht, aber dafür beispielsweise perfekten englischen Rasen vor und hinter jedem Grundstück. Zwischen Frühjahr und Herbst wird er jeden Freitag gemäht, das ist ein ungeschriebenes Gesetz, an das sich auch jeder hält. Sicher hat auch das mit dazu beigetragen, dass vier der acht Dörfer der Samtgemeinde in den vergangenen Jahren als schönstes Dorf Deutschlands ausgezeichnet wurden. Die dafür verliehenen Goldmedaillen gaben der Route ihren Namen.
Verkehrsverein Selsingen e.V., Hauptstraße 33, 27446 Selsingen, Tel.: (04284)9287-87, Fax: -88, E-Mail: lueer.schlesselmann@ewetel.net, www.selsingen.de Hanni Hase nimmt ab Januar Anmeldungen für die Teilnahme am Ostereierfest entgegen.