Von Karl-Heinz Gräte
Wer heute das vor einem halben Jahrhundert im Dietz Verlag erschienene Prozessprotokoll über »Laszlo Rajk und Komplicen« mit dem Vorwort von Kurt Hager zur Hand nimmt, ist geschockt über das in Budapest unter Regie Stalins und Berijas vorgeführte grausame politische Spektakel, zu dem Ungarns Parteiführer Matyas Rakosi und der Chef der Geheimpolizei Gabor Peter das Drehbuch geschrieben haben.
Es begann im Mai 1949 mit der Verhaftung von gestandenen, namhaften Kommunisten. Der Prominenteste von ihnen war Laszlo Rajk, Außenminister und Generalsekretär der Nationalen Volksfront Ungarns. Als 22-jähriger Student war er Kommunist geworden, hatte in Spanien den Franco-Faschismus, in seiner Heimat das Horthy-Regime und die deutschen Okkupanten bekämpft. Im befreiten Ungarn war er zwischen 1946 und 1948 Innenminister und Stellvertreter von Parteichef Rakosi.
Der Vorsitzende des Budapester Volksgerichtshofes, Dr. Gyula Alapi, verurteilte vor 50 Jahren Rajk und vier weitere Genossen zum Tode. Dieser habe, so das Urteil vom 24. September 1949, im Auftrage der USA und Jugoslawiens mit seiner Verschwörergruppe das Ziel verfolgt, die
Errungenschaften der Volksdemokratie durch einen bewaffneten Aufstand zu beseitigen, »das unter die Bauern verteilte Land den Gutsbesitzern, die Bergwerke und Fabriken den Großkapitalisten zurückzugeben«. Der Rajk-Prozess, der eine Terrorwelle gegen Zehntausende ungarische Kommunisten, Sozialdemokraten und bürgerliche Politiker auslöste, wurde zur Folie für die nachfolgenden Schauprozesse in Sofia, Prag, Warschau und Bukarest. Um so wichtiger ist es, Hintergründe und Motive jener von Stalin organisierten kriminellen Aktion gegen die Lebensinteressen der osteuropäischen Völker aufzuhellen, sie nicht als Akt eines paranoiden Diktators abzutun. Es handelt sich vielmehr um eine gezielte strategische Operation Stalins, die Länder Osteuropas gnadenlos in das sowjetische Gesellschaftsmodell zu pressen und in der ihm von Roosevelt und Churchill 1945 zugebilligten Einflusssphäre zu behalten.
Seit 1948 hatte Stalin argwöhnisch registriert, dass kommunistische Führer in nahezu allen osteuropäischen Staaten den anfänglich gewährten Spielraum für nationale Sonderwege nutzten. Zuerst gerieten Dimitroff und Tito ins Visier, weil sie nicht jeden ihrer außenpolitischen Schritte mit Moskau abstimmten. Versuche, Jugoslawiens Einfluss auf Albanien und die entstehende nordgriechische Volksdemokratie auszuweiten, waren für Stalin im Februar 1948 Anlass, durch ein
kollektives Verdammungsurteil des Kominform-Büros vom Juni 1948 den selbstbewussten charismatischen kommunistischen Partisanenführer Tito zu disziplinieren.
Seit März 1948 wurde nun auch der ungarische Parteichef Rakosi »nationalistischer Fehler« bezichtigt. Um die eigene Haut zu retten, suchte dieser geeignete Sündenböcke in den eigenen Reihen. Mit der Ausschaltung Rajks entledigte er sich zusätzlich eines politischen Konkurrenten, der in der Partei und in intellektuellen Kreisen großes Ansehen als nationaler Kommunist besaß, zumal er nicht zur Gruppe der in Moskaus ausgebildeten Funktionäre um Rakosi gehörte. Wahrscheinlich vorerst ohne Abstimmung mit Stalin, wurde Rajk schon im August 1948 im engsten Budapester Machtzirkel zum Opferlamm bestimmt: Er wurde der Spionage verdächtigt und als Innenminister durch Janos Kadar ausgewechselt. Eine Rakosi unterstehende Sonderkommission des Chefs der politischen Polizei legte gemeinsam mit Berija und dessen Vertreter für Südosteuropa, General Bielkin, Anfang Mai 1949 die Richtung des Prozesses fest, die Rakosi sich während seines Moskaubesuches im August 1949 endgültig bestätigen ließ. Am 14. September 1949 informierte er Stalin detailliert über die Todesurteile, die zehn Tage später über die »Rajkisten« offiziell verkündet wurden.
Stalin bediente sich seines ungarischen
Statthalters Rakosi, um mit dem Rajk-Prozess eine neuen Welle von Schauprozessen mit anschließendem Massenterror gegen Kommunisten, Sozialdemokraten und bürgerliche Politiker in seinem Machtbereich anzustoßen sowie unbotmäßige Genossen am exemplarischen Fall Jugoslawiens als »faschistische Mörderbande« zu diffamieren.
Erst unter dem Druck der neuen weltpolitischen Situation nach dem XX. Parteitag der KPdSU war Rakosi im März 1956 bereit zuzugeben, »dass der Rajk-Prozess auf Provokation beruhte und deshalb unsere Partei den Genossen Rajk und andere Genossen rehabilitiert«. Als Hauptverantwortlicher des Terrors schob er die Schuld auf den bereits hingerichteten »imperialistischen Agenten Berija« und auf seinen einstigen Kumpanen Gabor.
Im Interesse ihrer Vormachtstellung in Osteuropa und einer Aussöhnung mit Tito gab Chrustschow Stalins Erfüllungsgehilfen zum Abschuss frei. Mehr noch: Der von Moskau ausgesuchte Nachfolger Ernö Gero sah sich eine Woche nach seinem Canossagang zu dem auf der Krim weilenden Tito gezwungen, der Forderung von Julia Rajk nachzukommen, am 6. Oktober 1956 die sterblichen Überreste ihres Mannes, die 1949 an unbekanntem Ort »verscharrt« worden waren, öffentlich beizusetzen. Ihr konnte auch nicht abgeschlagen werden, dass neben den parteioffiziellen Rednern auf dem Kerepeser Friedhof in Budapest einer der Überlebenden des Mordprozesses, Bela Szasz, vor 250 000 Trauergästen den tiefen Sinn der Erinnerung an die kommunistischen Märtyrer Laszlo Rajk, Tibor Szönyi, György Palffy und Andras Szalay aus-
sprach: »Falsche Anklagen... warfen; Laszlo Rajk für sieben Jahre in ein unbekanntes Grab, aber heute erhöht sich sein Tod zum warnenden Symbol vor dem ungarischen Volk und der ganzen Welt. Denn wenn Tausende und Abertausende an diesen Särgen vorbeiziehen, so erweisen sie nicht nur den Opfern die letzte Ehre, sondern es ist ihr leidenschaftlicher Wunsch, ihr unwiderruflicher Entschluss, eine Ära zu begraben, für ewig Ungesetzlichkeit, Tyrannei, die ungarischen Anhänger des Faustrechts ... zu Grabe zu tragen.«
Dass der weitgehend vom Stalinismus gereinigte Reformflügel der ungarischen Kommunisten noch eine der großen Hoffnungen war, offenbarte sich am 23. Oktober 1956, als wiederum eine Viertelmillion Budapester nun vor dem Parlamentsgebäude verlangten, neue »Führer in der ungarischen Arbeiterpartei... in geheimer Wahl von unten nach oben zu wählen«, eine Regierung unter Imre Nagy zu bilden und alle »verbrecherischen Führer aus der Stalin-Rakosi-Ära sofort ihres Postens« zu entheben.
Als Nagy tags darauf das Amt als Ministerpräsident übernahm, ahnte er sicherlich nicht, dass er in anderer und doch ähnlicher Weise zu einem neuen kommunistischen Ketzer und Märtyrer werden sollte. Auch er wurde unter der Verantwortung seines einstigen Mitkämpfers Janos Kadar als »Konterrevolutionär« und »Landesverräter« im Juni 1958 hingerichtet und seine sterblichen Überreste an unbekanntem Ort vergraben. Die Begräbniszeremonie der wiederum 250 000 Budapester zu Ehren von Nagy am 16. Juni 1989 wurde auch zur Beerdigung des ungarischen Reformkommunismus und ebnete den Weg zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/781247.ins-visier-von-stalin-geraten.html