nd-aktuell.de / 22.09.2005 / Kultur
Selbstverschuldete Unmündigkeit?
DDR-Philosophie in den 60er Jahren - zwischen Gängelei und Bevormundung
Stefan Bollinger
Zeit und Umfeld, auch der leidige Broterwerb prägten schon immer Wissenschaft und erst recht die Geschichtsschreibung - die über den gewesenen Sozialismus allemal. Und: Ein Untergang taugt wenig für spätere Heroisierungen. Dies vorab.
Wie sich DDR-Philosophen unter dem Diktat der Partei verbiegen mußten, hat einer der Herausgeber dieses bemerkenswerten Buches, Hans-Christoph Rauh, in seiner Einleitung demonstriert. Er stellt der DDR-Philosophie angesichts der obwaltenden politischen Repression, der Allmacht der Parteioberen, der Einwirkung eines unabänderlichen sowjetisch-stalinistischen Philosophieschemas unter vorgeblich marxistischen Vorzeichen ein erdenklich schlechtes Zeugnis aus. Für ihn ist der Ertrag der DDR-Philosophie marginal. Von der Weltphilosophengemeinschaft abgeschnitten, habe sie nur vor sich hindümpeln können, sich selbst mehr schlecht als recht reproduziert.
Die zeitlose Erinnerung des Lesers: Die Champignon-Theorie - sobald sich ein helles Köpfchen zeigt, wird es abgeschnitten. Rauhs Fazit, dass »das "abgewickelte" Aus der geistigen DDR-Kultur ... vor allem auch das Resultat ihrer jahrzehntelangen parteidirigistischen Bevormundung« sei, wiederholt den Vorwurf: Die Opfer sind selbst schuld. Daß Rauh als einer der produktiv-nachdenklichen Erkenntnistheoretiker sich erfolgreich gegen die Entlassung wehren konnte, liegt sicher nicht nur an seiner in der DDR ob mangelnder Stromlinienförmigkeit schwankenden Karriere. Die katapultierte ihn für einige Jahre auf den Chefredakteurssessel der »Deutschen Zeitschrift für Philosophie« und noch rascher wieder hinunter, ließ ihn aber auch zum Philosophieprofessor in Greifswald auf- oder absteigen. Rauhs Schicksal entspricht dem vieler einflußreicher DDR-Philosophen, die als Autoren mitwirken oder sich im Buch wiederfinden. Manchmal werden sie etwas zu kühn in Schurken oder Helden eingeteilt. Die Lektüre läßt vermuten, daß diese Rollen manchmal vom freien Willen, oft genug von Parteiaufträgen, aber offensichtlich nicht selten auch von den sich wandelnden, manchmal auch tatsächlich - wie im guten Entwicklungsroman sich vollziehenden - tieferen und besseren Einsichten geprägt waren.
Hubert Laitko fragt im Fall Hermann Leys, ob er einer der gescholtenen »Kaderphilosophen« oder Schutzherr kreativer Denker war. Beides dürfte nicht nur auf ihn zutreffen.
Rauh wie Peter Ruben ist zuzustimmen, wenn sie für 1956/58 den Abbruch eigenständigen Denkens mit der Ausschaltung der »Revisionisten«, der Bloch, Lukács oder Harich erkennen. Nach dem Aufbruch im Gefolge der Befreiung vom Faschismus nun der Druck von oben wie die Bereitschaft der Betroffenen, sich dieser Entmündigung zu unterwerfen. Es war, so der zu DDR-Zeiten kaltgestellte Peter Ruben, nicht mehr und nicht weniger als »die Unterwerfung der kommunistischen Philosophie unter den Apparat der kommunistischen Parteiführung«. Der »dialektische Materialismus (hatte) seinen Hauptsitz im Hirn des Esten Sekretärs... und jede als Fraktion diagnostizierte Gruppe« stand so »in der Partei a priori nicht "auf dem Boden des dialektischen Materialismus"«.
Rauh hat es verstanden, 15 hochspannende Texte zusammenzubringen, die eines gerade nicht bestätigen: die Sterilität der Philosophie im Schlüsseljahrzehnt der DDR-Geschichte. »Denkversuche« - der Titel ist programmatisch.
Jörg Roesler, Hubert Laitko, Reinhard Mocek und andere bestätigen die mittlerweile bekannte Einsicht, daß Ulbrichts Wirtschaftsreform auch Konsequenzen für die sozial- und geisteswissenschaftliche Diskussion hatte. Die Aufbruchstimmung dieser Jahre überwand einseitige Bewertungen. Als bürgerlich-dekadent denunzierte Disziplinen wie Kybernetik, Organisationswissenschaften oder Soziologie wurden als moderne Wissenschaften durchgesetzt. Georg Klaus' Arbeiten zur Kybernetik, die alsbald auch politisch verwertet wurden, dann aber sicher nicht nur wegen der Unseinsichtigkeiten von Parteibürokraten, sondern auch wegen manch szientistischen Überzeichnungen im Zuge der Reformbeseitigung gekippt wurden, sind ein Beispiel.
Rainer Schwarz und Helmut Metzler beschreiben nachdrücklich, wie Geisteswissenschaftler tatsächlich Politikberater werden konnten oder sollten. Das betrifft auch die von Hansgünter Meyer exzellent skizzierte Geschichte der Soziologie in der DDR: eben noch bürgerliche Un-Wissenschaft und Konkurrent eines vermeintlich omnipotenten Historischen Materialismus, nun erwartungsträchtige Wissenschaft. Deren politische Implikationen begannen allerdings alsbald die reformfeindliche und selbstverliebte Führung unter Honecker zu stören, sie wurde auf harmlosere Bereiche abgedrängt.
Gewürdigt werden so unterschiedliche Gestalten wie der sich vom Stalinisten zum Dissidenten wandelnde Robert Havemann, über den einfühlsam Guntolf Herzberg schreibt, oder der kritische Philosoph Werner Heise, dessen Wirken Camilla Warnke nachzeichnet. Beeindruckend ist der Beitrag von Alfred Kosing, der an vielen Fronten der Philosophieentwicklung Verdienste erwarb, aber auch strittige Positionen bezog, die ihm manche nicht verzeihen mögen. Er schildert das Schicksal jenes Lehrbuches »Marxistische Philosophie« von 1967, das manche als Höhepunkt einer Neuorientierung der Philosophie über die stalinsche Kodifizierung der »Histomat« hinausgehend verstehen. Ein Werk, das auch die Zerrüttungen der Zeit erlitt, erst akzeptiert, dann totgeschwiegen und faktisch unter Verdikt gestellt. Nicht die abstrakte Grundfrage der Philosophie, sondern die Praxis sollte Ausgangspunkt marxistischen Philosophierens sein, bewußt auf eine Trennung zwischen historischem und dialektischem Materialismus verzichtend. Kosing macht deutlich, dass er Philosophieren immer als ein politisches verstand, theoretische und methodische Grundlagen für die Politik des Sozialismus abgeben wollte.
Die Tragik seiner Generation wie der marxistischen Philosophie insgesamt war, dass sie das Denken zwar versuchten, aber sich disziplinieren ließen - aus vielen Gründen, guten wie schlechten. Der sozialistische Versuch hat diesen Verrat an der eigenen Philosophie nicht verwunden. Marxens angenommener Leitspruch »An allem ist zu zweifeln« war Stigma, nicht Antrieb für ständige Selbstinfragestellung und Weiterentwicklung. Ein Sozialismus, der dies aber nicht konnte, musste untergehen.
Hans-Christoph Rauh/Peter Ruben (Hg.): Denkversuche. DDR-Philosophie in den 60er Jahren. Ch. Links Verlag, Berlin. 556 S., br., 34,90.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/78353.selbstverschuldete-unmuendigkeit.html