nd-aktuell.de / 30.09.2005 / Politik

Die Odyssee der Tschetschenen

Flüchtlinge irren in Europa auf der Suche nach Perspektive umher

Marina Mai
Anlässlich des heutigen Tages des Flüchtlings mahnen das UN-Flüchtlingskommissariat und die bundesweite Arbeitsgemeinschaft »Pro Asyl« Verbesserungen für den Flüchtlingsschutz in Deutschland an. Sie fordern vor allem eine Bleiberechtsregelung für geduldete Flüchtlinge.
»Zehntausende Menschen leben immer noch im Zustand der Dauerduldung«, monierte Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt in einer Erklärung. »Es ist menschenunwürdig, sie jahrelang mit einer Hinhaltetaktik im Ungewissen zu lassen, ob sie in Deutschland bleiben können.« Eine solche Bleiberechtsregelung hatte die Innenministerkonferenz im Juni gegen die Stimmen der Minister der SPD-regierten Länder abgelehnt. Die Linkspartei-Innenpolitikerin Katina Schubert kündigte für die neue Legislaturperiode bereits eine Gesetzesinitiative ihrer Partei an, die langjährig geduldeten Flüchtlingen eine Lebensperspektive in Deutschland bieten soll. Auf die spezifische Situation von Tschetschenen wies gestern der Flüchtlingsrat Brandenburg hin. Sie haben seit der EU-Osterweiterung keine Chance mehr, in Deutschland überhaupt einen Asylantrag zu stellen, sondern warten in der Regel in der Abschiebehaft Eisenhüttenstadt auf ihre Rückschiebung nach Polen oder in das Baltikum. Denn seit Mai 2004 ist jener EU-Staat für das Asylverfahren zuständig, den ein Asylsuchender als erstes betritt. Weil Tschetschenen als russische Staatsbürger legal nach Weißrussland reisen dürfen, kommen sie in der Regel von dort über die Grenze nach Polen, Litauen und Lettland. Judith Gleitze vom Flüchtlingsrat: »Bei unseren Besuchen in Eisenhüttenstadt haben wir gesehen, dass dort sehr viele Tschetschenen einsitzen. Sie finden in Westeuropa keinen Schutz mehr, wenn sie nicht mit dem Fallschirm abspringen. Doch in Polen und Litauen gäbe es eine Schutzlücke für Flüchtlinge, so Gleitze. In Polen stammen über 90 Prozent, in Litauen 73 Prozent aller Asylbewerber aus Tschetschenien. In beiden Staaten werden Asylsuchende, die keinen Pass haben, und das ist bei Tschetschenen die Regel, in Haftanstalten gesteckt. In Litauen bleiben sie dort bin zum Ende des Asylverfahrens oder bei negativem Ausgang bis zur Abschiebung, in Polen maximal neun Monate. Nach Ansicht von Karina Dajoraite vom Litauischen Roten Kreuz und von Malika Abdoulvakhabova von der polnischen Flüchtlingsorganisation »Ocalenie« sei das eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Positiv bewerten die Vertreterinnen der NGOs aus Litauen und Polen die Aufnahme der Tschetschenen durch die einheimische Bevölkerung. Anders als Afrikaner oder Jogoslawen, würden diese nicht mit fremdenfeindlichen Ressentiments konfrontiert. Aufgrund ihrer russischen Sprachkenntnisse fallen Tschetschenen in Litauen, wo seit Jahrzehnten viele Zuwanderer aus dem Kaukasus leben, oft nicht einmal auf. Dajoraite: »Litauer haben zudem viel Sympatie für ihren Freiheitskampf gegen Russland.« Kritisch sehen Kajoraite und Abdoulvakhabova, dass Flüchtlinge in Polen und Litauen oft keinerlei Sozialleistungen bekommen. Wer in Polen als Asylberechtigter anerkannt wird, erhält ein Jahr lang Geld, das für die Miete reicht, danach nichts mehr. Die meisten Tschetschenen genießen jedoch lediglich Abschiebeschutz. Da werden sie nach Ende des Asylverfahrens aus den Flüchtlingsunterkünften verwiesen und bekommen gar kein Geld. Anders als in Deutschland dürfen sie allerdings arbeiten. Doch ohne polnische Sprachkenntnisse ist es fast unmöglich, einen Job zu bekommen. Malika Abdoulvakhabova, die vor zehn Jahren selbst als tschetschenische Asylbewerberin nach Polen kam, berichtet über die medizinischen Leistungen: »Ich hatte eine schwere Magenerkrankung. Ein Arzt sagte mir, ich sollte ein bestimmtes Medikament dreimal pro Tag nehmen. Er händigte mir jedoch nur zwei Tabletten aus, und ich hatte kein Geld, mir weitere zu kaufen.« Viele Tschetschenen seien schwer traumatisiert. Es gebe jedoch, so Abdoulvakhabova, lediglich in Warschau psychotherapeutische Behandlung für Tschetschenen. Das Ergebnis: In Polen und Litauen anerkannte Flüchtlinge versuchen aus wirtschaftlichen Gründen in andere Staaten weiterzuwandern. In Deutschland aber, so Judith Gleitze, kommen sie in Abschiebehaftanstalten. Aus Verzweiflung würden viele in russische Gebiete im Kaukasus außerhalb Tschetschenien weiterwandern - mit unsicherer Perspektive. Gleitze: »Tschetschenische Flüchtlinge irren in Europa umher, auf der Suche nach Schutz und Lebensperspektiven.«