Sie sank ihm entgegen

Adolf Muschgs Roman »Löwenstern«

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein historischer Roman und zwar ein ganz echter, denn die Erzählung reicht weit bis in die napoleonische Zeit, das frühe 19. Jahrhundert, zurück. Im Mittelpunkt stehen die Expansionsbemühungen Russlands, insbesondere die verzweifelten Versuche, in der Seefahrt zu reüssieren. Gleich drei Motti hat Adolf Muschg seinem neuen Buch vorangestellt, Zitate von Hölderlin, Heine und Meister Eckhart, die drei zentrale Aspekte des Textes herausstellen: die Bedeutung der Seefahrt, die Faszination Japans und die Macht der Liebe.

In einem - listigerweise - als Nachwort des Herausgebers und nicht des Autors bezeichneten biografischen Essay informiert Muschg noch über Anlass und Entstehung seines Romans. Er habe ein Buch über die historisch verbürgte Figur des Hermann Ludwig Löwenstern (1777-1836), »des unverblümten Protokollanten der ersten russischen Weltumseglung», schreiben wollen. Zu diesem Zweck sei er nicht nur wieder nach Japan gereist - unmittelbar im übrigen nach dem fürchterlichen Reaktorunfall -, sondern auf den Spuren Löwensterns schließlich auch auf dessen Gut Rasik in Estland. Dort, so Muschg weiter, sei er dann auf einen handschriftlichen Text des Schriftstellers und Leutnants der russischen Marine gestoßen - Höhe- wie Schlusspunkt eines Unternehmens, das mit der Niederschrift des Romans »Löwenstern« endet bzw. den »Raum« der Phantasie, von dem Muschg spricht, allererst eröffnet.

Dieser Roman, der durchsetzt ist mit impliziten poetologischen Selbstaussagen, handelt von Spielräumen des Möglichen; er erzählt, wie etwas hätte gewesen sein können. Das heißt, er schreibt einer historischen Figur (s)eine Geschichte hinterher. Eine Geschichte, die zum Teil dokumentarisch belegt ist. Im Wesentlichen ist es aber Fiktion - getrieben von literarischen Ambitionen wie von der Liebe zu dem geheimnisvoll-fremden Land Japan, das seinerzeit, völlig abgeschottet, lediglich minimale Handelsbeziehungen mit Holland unterhalten hat.

In seiner Unternehmung durch keinen Geringeren als Goethe bestärkt, beschließt Löwenstern an einer Expedition nach Japan teilzunehmen. Doch schlägt diese fehl, es kommt nicht zur gewünschten Begegnung mit der japanischen Kultur. Löwenstern hat Japan nie wirklich gesehen und betreten. Auch das Romanprojekt, die Fortschreibung von Swifts »Gullivers Reisen«, kommt nicht zustande, wiewohl Löwenstern auf einer erzwungenen Klausur - oder in einer Art Verbannung? - schriftstellerisch dilettiert und zugleich der körperlich-sinnlichen Liebe mit einer Frau namens Nadja verfällt. Sie »hockte auf dem Bärenfell«, so beginnt ihre gemeinsame Geschichte, »und als ich die Tür geschlossen hatte, schlug sie ihren blauen yukata auseinander, legte sich auf den Rücken und öffnete die Beine«.

Am Ende - doch was und wo ist das? - begegnet man dem sonderbaren Liebespaar wieder auf einer Soirée bei Otto von Kotzebue, dem Sohn des Lustspieldichters August und Diplomaten. Auch der romantische Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso ist mit von der Partie. Otto von Kotzebue enthüllt uns Lesern wie den anwesenden Gästen das Geheimnis des irren Paares - sie seien nämlich lediglich Spielfiguren, »nützliche Idioten« seines Vaters gewesen, um das Rührstück »Resanow« passend zu besetzen. Ob das aber stimmt? - Nein, so unkt ein anwesender Herr von Üxküll, der richtige Herr Löwenstern lebe vielmehr in Rasik, es handle sich um einen Doppelgänger.

Realität und Phantasie, historische Wirklichkeit und romantische Phantastereien überbieten einander in Muschgs Roman und gehen dann wieder eine glückliche Symbiose ein - den Lesern zur Lektürefreude: »Die Frau war gegen Chamisso gesunken, (...). Als er sich aufgerichtet hatte, konnte man glauben, er wolle sie mit ganzem Leib abschirmen, doch die Zuschauer, wie gebannt, meinten auch zu sehen, wie sie zu schwinden, dann, bei fortdauerndem Singsang, immer mehr zu verschwinden begann. Sahen sie recht? Die Person war nicht kleiner geworden; sie war immer noch da - und zugleich war sie es nicht.«

Es ist eben so, wie Chamisso einmal bemerkt: »Bücher sind gerne klüger als ihre Verfasser.«

Adolf Muschg: Löwenstern. Roman. C. H. Beck. 331 S., geb., 19,95 €.

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