Vorteil durch Unreife

Warum der Mensch ein so großes Gehirn hat

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 3 Min.

Von allen Lebewesen besitzt der Pottwal das größte Gehirn. Dieses kann bis zu zehn Kilogramm schwer werden. Unter den Landtieren liegt der Elefant mit rund fünf Kilogramm vorn, gefolgt vom viel kleineren Homo sapiens, dessen Gehirn im Schnitt immerhin 1,4 Kilo wiegt.

Vergleicht man nun das Gehirngewicht des Menschen mit dem seines nächsten lebenden Verwandten, des Schimpansen, ist der Unterschied wiederum viel größer als man erwarten sollte. Denn bei Schimpansen ist das Gehirn nur 400 Gramm schwer. Und noch etwas fällt auf: Während ein Schimpanse bereits mit 40 Prozent der Gehirngröße eines erwachsenen Tieres geboren wird, beträgt der entsprechende Wert beim Menschen etwa 28 Prozent. Die menschliche Hirnentwicklung erfolgt also großenteils außerhalb des Mutterleibs, was eine lange Kindheit zur Folge hat, die zugleich vorteilhaft ist für die Entfaltung der individuellen Lernfähigkeit. Warum aber wird ein Mensch überhaupt mit einem so »unreifen« Gehirn geboren? Eine Hypothese lautet: Durch den aufrechten Gang hat sich der Beckenkanal der Frau so stark verengt, dass ein Neugeborenes mit einem noch größeren Gehirn bzw. Kopf dort kaum mehr hindurchpassen würde. Neuere Untersuchungen relativieren diese Aussage und verweisen auf einen anderen limitierenden Faktor. Danach fällt es der werdenden Mutter mit fortschreitender Schwangerschaft immer schwerer, sich selbst und den Fötus mit Nährstoffen zu versorgen. Nach neun Monaten hat der weibliche Körper seine diesbezüglichen Möglichkeiten erschöpft und leitet die natürliche Geburt ein.

Was dann folgt, ist eine im Tierreich einzigartige Größenzunahme des Gehirns, deren Grundstein allerdings schon im Mutterleib gelegt wird, wie ein japanisches Forscherteam um Tomoko Sakai von der Universität Kyoto jetzt im Fachblatt »Current Biology« (DOI: 10.1016/ j.cub.2012.06.062) berichtet. Die Wissenschaftler hatten erstmals bei zwei schwangeren Schimpansenweibchen zwischen der 14. und 34. Schwangerschaftswoche Ultraschallaufnahmen der Föten gemacht. Die daraus abgeleiteten dreidimensionalen Gehirnbilder wurden anschließend mit den Entwicklungsstufen des menschlichen Gehirns im gleichen Zeitraum verglichen. Ergebnis: Während das Gehirn des menschlichen Fötus in kontinuierlich steigendem Tempo größer wird, fällt die Wachstumsgeschwindigkeit bei einem Schimpansenfötus nicht nur geringer aus, sondern nimmt im Verlauf der Schwangerschaft sogar ab.

In Zahlen: In der 16. Schwangerschaftswoche ist das Gehirn des Schimpansenfötus mit ca. 16 Kubikzentimetern (cm³) nur etwa halb so groß wie das Gehirn eines menschlichen Fötus (34 cm³). Zwar steigt die Geschwindigkeit des Gehirnwachstums bis zur 22. Schwangerschaftswoche bei beiden Arten an. Anschließend setzt sich dieser Prozess aber nur beim Menschen fort. Beim Schimpansen ist das weitere Tempo des Gehirnwachstums bis zur Geburt rückläufig. Und so beträgt der wöchentliche Zuwachs an Gehirnvolumen in der 32. Schwangerschaftswoche beim Schimpansen rund 4 cm³, beim Menschen 26 cm³.

Nach der Trennung der Evolutionslinien beider Arten vor ca. sechs Millionen Jahren haben sich auch die Muster des pränatalen Gehirnwachstums weiter auseinander entwickelt, schreiben die japanischen Forscher. Und sie vermuten, dass nur dank der bereits im Mutterleib erreichten hohen Geschwindigkeit des neuronalen Wachstums der Mensch über ein Gehirn verfügt, welches fast acht Mal größer ist, als man auf Grund seiner Körpermasse erwarten würde.

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