nd-aktuell.de / 08.10.2012 / Kultur / Seite 17

Kritiker-Geschmack

Irmtraud Gutschke

Gleich drei Nominierungen von Suhrkamp - inzwischen in Berlin ansässig, ein Verlag, dem wirklich jede literarische Ehre gebührt -, dazu je eine von Rowohlt Berlin, C. H. Beck München und dem kleinen, aber feinen Editionshaus Jung und Jung aus Salzburg, das mit Melinda Nadj Abonjis »Tauben fliegen auf« 2010 den Deutschen Buchpreis bekam. Ein Autor kommt aus Österreich, fünf sind aus westdeutschen Städten, wenn man bezüglich Ernst Augustin nicht hervorheben will, dass er, in Hirschberg geboren, in Schwerin aufwuchs und in der DDR Arzt war, ehe er 1958 in den Westen ging. Mit vierundachtzig Jahren ist Augustin der Älteste, Clemens J. Setz mit knapp dreißig der Jüngste unter den Finalisten. Fünf Männer und eine Frau. - Ohne Zweifel: Proporzerwägungen lagen der Jury fern.

Es störte sie auch nicht, dass Clemens J. Setz und Wolfgang Herrndorf 2011 und 2012 den »Preis der Leipziger Buchmesse« bekamen. Dass Setz mit »Die Frequenzen« und Stephan Thome mit »Grenzgang« schon mal in der Endrunde zum Deutschen Buchpreis waren. Vielleicht kam es ihnen sogar zugute: Die Juroren waren schon mal aufmerksam geworden. Ob die sieben wirklich alle 147 eingereichten Manuskripte gründlich gelesen haben? Immerhin, bei zwei Nominierungen hebt man die Brauen: Ernst Augustin? Hat endlich mal einen großen Preis verdient. Ursula Krechel? Ihr ist's zu gönnen ... Den anderen natürlich auch.

Ob es die hier vorgestellten Bücher auf Bestsellerlisten schaffen? Der Buchpreis ist beste Lese-Reklame. Solange am Schluss bei den Buchkäufern nicht Enttäuschung steht: zu verrätselt, zu langatmig, zu abgehoben. Hatte die Jury wirklich eine größere Lesergemeinde im Blick oder sonnte sie sich in einem Kritikergeschmack, dem leichter Verdauliches von vornherein suspekt ist?

Es gibt auf dem deutschsprachigen Buchmarkt durchaus Neuerscheinungen, die literarisch anspruchsvoll und dabei noch unterhaltsam sind. Zum Beispiel: »Aller Tage Abend« (Knaus) von Jenny Erpenbeck oder, fast noch schöner, »Wer ist Martha?« von Marjana Gaponenko, 1981 in Odessa geboren, seit 1996 deutsch schreibend und in Mainz lebend. Auch aus dem Suhrkamp Verlag. Was soll's.