nd-aktuell.de / 09.10.2012 / Kultur / Seite 27

Herzenslächeln

MARJANA GAPONENKO: »Wer ist Martha?«

Irmtraud Gutschke

Auf Seite 204 taucht die Autorin selber auf, nippt in der Maria-Theresia-Bar des noblen Hotels »Imperial« in Wien an einem »Kosmonautencocktail«. Und neben ihr, sich schon kaum mehr auf ihren Barhockern haltend, die beiden wichtigsten Figuren des Romans: Luka Stepanowitsch Lewadski aus der Ukraine, 96 Jahre alt, Lungenkrebs, mit seinem Zufallsbekannten, Herrn Witzturn aus Österreich, der womöglich noch älter ist. »Sie kommt aus der Sowjetunion«, knurrt der eine dem anderen ins Ohr. Und schon ist zwischen den beiden von »Revolution« die Rede. Witzturn prophezeit Lewadski ein neues Zeitalter, das »die Aufklärung und die peinlichen Turbulenzen des letzten Jahrhunderts wie ein Bündel getrockneter Waldpilze erscheinen lassen wird«. Derweil die junge »Russin« dem Barmann von ihrem Romanvorhaben erzählt: »Ein einsamer alter Mann kehrt zurück in die Stadt seiner Kindheit, um dort zu sterben.« Tatsächlich hatte Lewadski seine letzten Tage in diesem Luxushotel abfeiern wollen, doch der Krebs hält sich noch im Hintergrund, und sein Geld ist fast aufgebraucht. Wie soll das enden?

Erstmal verschwindet die junge »Russin« sehr elegant durch einen Riss in ihrem Glas, dann geht in der von Kerzen erleuchteten Bar das Licht wieder an. Der Stromausfall im Hotel ist behoben.

Marjana Gaponenko ist mit diesem Buch etwas Großartiges gelungen: eine Geschichte voller Spannung und Heiterkeit über ein Thema, das ernster nicht sein könnte. Wie soll man leben, wenn man nur noch kurze Zeit zu leben hat? Was wird wichtig, was unwichtig? Und wie ist es überhaupt, wenn man schon sehr alt ist, mitunter sein Gebiss vergisst, sich nicht mehr mit eigner Kraft aus der Badewanne erheben kann, wenn man fast sein ganzes Leben allein war und schon mit dem Spazierstock spricht?

Es könnte eine traurige Geschichte sein. Auf glaubhafte Weise hat Marjana Gaponenko daraus etwas freundlich Tröstendes gemacht. Das Wunderbare kommt aus der Seele dieses alten Mannes, der so viel weiß und dabei so offen ist für alles, was er erlebt. Der noch einmal einen Aufbruch wagt und der dabei Erfahrungen macht, die auch uns beim Lesen zugute kommen.

Lewadski ist Ornithologe, und er liebt die Musik. Lesend sind wir von zwitschernden Vögeln umgeben, von Konzertklängen umtost. Der Professor hat sogar ein »Wörterbuch der Rabensprache« in seinem Besitz, und er weiß, wie »Vögel lächeln«. Später findet sich im Roman auch ein Begriff dafür, der auf Menschen passt: »Herzenslächeln«. Wir erleben, wie das vor sich geht, wie da etwas zwischen Menschen aufflackert, auf das sie eingestellt waren, ohne dass sie es bezweckten. Der Text würde uns ja nicht so ergreifen, wenn die junge Autorin in der Gestalt des alten Mannes nicht auch etwas Ureigenes gesucht hätte. Im Grundsätzlichen geht es ihr um eine Haltung zum Leben wie auch zum Tod. Um Würde, Freundlichkeit, Barm-herzigkeit - aber das eben nicht nur in der Kontemplation, sondern im mitmenschlichen Agieren.

Sich bewegen und bewegt werden: Verhältnisse und Zufälle, der Mensch ein Hälmchen im Strom der Zeit. Wir erfahren von Lewadskis Lebensgeschichte, wie er aus Galizien nach Wien kam und, zurückgekehrt, sich in Polen befand, wie die Mutter das kommende Unheil ahnt und mit dem Sohn nach Osten flieht, bevor die Deutschen einmarschieren. Wie sie in Tschetschenien ankommen und von dort nach Zentralasien deportiert werden und schließlich heimkehren in ihr Dorf, das nun Teil der Ukraine ist. »Historisch gesehen kam er aus zwei Utopien: aus Österreich-Ungarn und der Sowjetunion.« Der Satz könnte eigentlich auch für Marjana Gaponenko gelten.

Vom Buchumschlag blickt uns eine junge Frau mit dickem schwarzen Zopf entgegen. 1981 in Odessa geboren, sagt uns der Klappentext, seit ihrem 16. Lebensjahr schreibt sie auf Deutsch und lebt nach Aufenthalten in Krakau und Dublin inzwischen in Mainz. Marjana Gaponenko wäre meine Favoritin für den Deutschen Buchpreis gewesen. Von erstaunlicher Welthaltigkeit und existenzieller Tiefe ist ihr Roman und dabei in einer so tänzerischen Sprache, mit so viel Sinn für das Hintergründige und Tragikomische geschrieben, dass hier von einem ganz großen Talent für die deutsche Gegenwartsliteratur zu sprechen ist.

»Wer ist Martha?«, wird Lewadski am Schluss gefragt. Wenn wir aufmerksam gelesen haben, wissen wir: Es handelt sich um eine Wandertaube, die letzte ihrer Art, die am 14. September 1914 in einem amerikanischen Zoo ihr Leben aushauchte, am selben Tag, als Lewadski, »blutbeschmiert und blind, seine Ankunft verkündete«. In der Tiefe des Romans ist die Sorge um die Zukunft der Welt, doch ist sie eingehüllt in »Daseinsfreude«, in ein »freies, von keinen Umständen abhängiges Glück«. Das Glück: ein Raum, der »wie eine Luftblase in uns schwebt«.