Freiheit

Die Wand von Julian Roman Pölsler

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Frau - namenlos - ist ganz und gar namenlose Einsamkeit. Sie sitzt an der großen Tischplatte in der Berghütte und schreibt, bis zum letzten Rest von Papier, die Chronik ihrer Zeit in den österreichischen Alpen, sie schreibt - um nicht den Verstand zu verlieren. »Es ist ja keiner da, der für mich denken und sorgen könnte, ich bin allein.«

Als sie hierherkam für ein paar Tage Erholung mit den befreundeten Eheleuten, war sie die Frau mit dem Chic der Stadt, Chiffonschal zum Schutz vor dem Fahrtwind im Auto auf dem gutfrisierten, üppigen, dunklen Haar. Das leichte Frösteln, kam es aus ihrem Innern? Jetzt ist sie ein drahtig-kurzhaariger, schwerstarbeitsderber Mensch, und es könnte sein, sie ist das letzte Exemplar der Spezies.

Aussteigerin durch Zufall und wider Willen. Einzig Hund Luchs, die Katze und das Kätzchen Perle, Kuh Bella und eine weiße Krähe sind ihr Gesellschaft, nirgendwann mehr ein Mensch. Gurkenmaske, Ehering - nicht nötig, nur hinderlich. Zum Überleben auf sich allein gestellt wie Robinson Crusoe, ausgeliefert der Natur, dem Wechsel der Jahreszeiten. Gezwungen, belehrt zum Loslassen des Vergangenen, Vertrauten, zu einem pragmatischen »Siddharta«.

Was der Frau zu Beginn zugestoßen war - es wäre gut möglich der Auftakt zu etwas wie einem Thriller gewesen: Auf der Suche nach dem Paar, dass das Jagdhaus wegen eines Spaziergangs hinab ins Dorf verlassen hatte und nicht, wie sie erwarten konnte, zu ihr zurückkam, stößt sie auf ein Hindernis, ein unsichtbares, eine Sperre der Straße, eine unbegreifliche Grenze, eine feste glatte, kühle Wand, nicht zu sehen, nur zu ertasten mit den Händen, und zu durchbrechen nicht einmal per Volldrauffahrt mit dem Auto. Und über alle Weiten links und rechts verläuft diese Wand, endlos. Nur durch einen drohend-scharf schwingenden Summton hat sie Physis. Hinter ihr zwei inmitten alltäglicher Verrichtungen versteinerte Menschen: der Beweis einer unerklärlichen Katastrophe. Die Frau ist für immer abgeschnitten von menschlicher Zivilisation - von dem, was sie dafür hielt. Denn sie wird nicht aus Gefangenschaft heraus-, sondern zu sich finden, in ungeahnter Freiheit. Was wie das Purgatorium erschien, wird Erlösung.

Martina Gedeck, die Hauptdarstellerin (neben den Tieren und der begeisternd in Szene gesetzten Landschaft), die bislang sehr gute, gute und hervorragende Leistungen zeigen konnte - hier in diesem Film ist sie grandios.

Und der Österreicher Julian Roman Pölsler hat es geschafft, vollständig kitschfrei zu halten, was zum Dramenstadl getaugt hätte. Keine Überwältigungseffekthascherei, kein Schwulst. Alles stimmig gesetzt. Und mit Gespür für die Filmwirkung des Tons. Er lässt Bach-Partiten sprechen und - absolute Stille. Und immer wieder die Stimme aus dem Off (Martina Gedeck selbst).

Sie erzählt, was die Frau, nach Jahren dieses abgeschiedenen Lebens, gerade schreibt. Dann erscheint das Geschehen - als Rückblende - im Bild. Man empfindet die Schilderungen dessen, was die Szenen dann ohnehin liefern, jedoch nicht als filmhandwerklichen Fauxpas. Sondern dieses Vor-Lesen schafft meist jene Redundanz, jene Pause zum Atemholen im so radikalen Ereignisstrom des Kampfes der Frau mit den Umständen und mit sich selbst, sodass ihr jeweils nächstes Kapitel der Zukunftsgewinnung um so tiefer mitzuerleben ist. Da sie, stumm, wie im Selbstgespräch, die Eintragungen macht, klingt ihre Stimme vor Verzweiflung, vom lastenden Tagwerk oft sterbensmüde. Doch schwingen darin dann auch Gefasstsein beim Abschiednehmen vom bislang Gewohnten und schließlich der Hoffnungsschimmer, dass Leben weitergeht.

Die »Lesungen« des Films, eine Adaption des Romans »Die Wand« der Österreicherin Marlen Haushofer von 1963, sind eine Hommage an sie. Ursprünglich sollte der Film der burmesischen Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi gewidmet sein. Er ist nun, so der Regisseur, all jenen Frauen zugeeignet, die heute noch gezwungen sind, hinter einer unsichtbaren Wand von Ignoranz und Intoleranz zu leben.

Der Film ist - ähnlich wie das Buch - für verschiedene Interpretationen offen. Er fesselt in jeder Minute und trifft einen bis ins tiefste Existenzgefühl, lange, lange nachwirkend. Das ist das Sonderbare, das nur Kunst vermag.

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