Tot. Oder doch nicht?

Jenny Erpenbeck beschreibt in »Aller Tage Abend« ein Leben - auf ziemlich listige Weise

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Vier Mal beschreibt sie einen Tod, um ihn hernach wieder ungeschehen zu machen. Vier Mal lässt Jenny Erpenbeck ihre Leser erleichtert aufatmen, denn, so heißt es schon auf Seite 23: »Am Ende eines Tages, an dem gestorben wurde, ist noch längst nicht aller Tage Abend.« Gut möglich, dass ein acht Monate alter Säugling in der Nacht plötzlich keine Luft mehr bekommt und stirbt. Oder doch nicht, wenn eine Handvoll Schnee, auf der Brust des Kindes verrieben, den Atem wieder einsetzen lässt?

Also wächst das winzige Wesen zu einer schönen Rothaarigen heran, erlebt in Wien eine große Leidenschaft - und bringt sich aus Liebeskummer um. Oder doch nicht? Hätte der Zufall sie nicht mit jenem jungen Mann zusammengeführt, der ihr beim Selbstmord half, sie hätte sich am nächsten Morgen womöglich wieder gefasst.

Man stelle sich vor, sie hätte irgendwann zu schreiben begonnen und später - als Jüdin und Kommunistin - in der Sowjetunion Exil gefunden. Dort hätte man sie eines Morgens um vier verhaftet. Und dann ... Oder doch nicht? Dem Tod in Workuta hätte sie entgehen können, wenn sie woanders übernachtet hätte.

Überlebt hätte - um zwanzig Jahre später in ihrem Haus die Treppe herunter zu fallen? In der Zwischenzeit hatte sie einem Sohn das Leben geschenkt und war in der DDR eine bekannte Schriftstellerin geworden. Auf dem Höhepunkt ihres Ruhms wurde ihr nun ein Staatsbegräbnis zuteil.

Wäre das letztlich nicht besser gewesen als jenes langsame Dahinsiechen Anfang der 90er Jahre in einem Heim, wo sie schon nicht mehr die bekannte Künstlerin ist, sondern nur ein Pflegefall? Das letzte Kapitel dieses Romans ist so einprägsam, so wahrhaftig, so traurig, dass einem dieser Gedanke kommen mag, den man sofort wieder verwirft. Einen plötzlichen Tod mag sich manch einer wünschen, aber es bleiben Menschen zurück. Der Sohn konnte mit seiner Mutter noch erwachsen werden, die Enkelin hat die Großmutter noch gekannt.

Die Enkelin heißt Jenny Erpenbeck. Ihre Großmutter Hedda Zinner, 1905 in Lemberg geboren, 1994 in Berlin gestorben. Eine gewisse Verfremdung sollte im Roman sein. Die tatsächliche Biografie, von der in der Öffentlichkeit womöglich noch nicht alles bekannt ist, sollte sich mit Fiktion mischen dürfen. Also beginnt die Handlung 1902 in dem kleinen galizischen Ort Brody, und es ist eine Frau Hoffmann, die 1992 ihre Augen für immer schließt. Vorher aber hat sie vom Tod gesprochen, wie es bei aller Schwäche nur eine Wortmächtige kann. »Weißt du, ich habe Angst, dass alles verlorengeht - dass die Spur verlorengeht.«

Das dürfen wir als Kernsatz nehmen. Gegen dieses Verlorengehen hat Jenny Erpenbeck angeschrieben, auch in früheren Büchern schon. Und diesmal auf eine so listige Weise - kam überhaupt schon jemand auf die Idee -, vier Mal den Tod zugreifen zu lassen, um ihm gleich wieder ein Schnippchen zu schlagen.

Sie hat diesen Lebensweg zu einem Berg gemacht. Wir steigen stufenweise hinauf. Immer wieder weitet sich der Blick auf große geschichtliche Landschaften. Es ist von Bedeutung, dass die gerade Geborene eine jüdische Mutter hat, deren Vater bei einem Pogrom auf schrecklichste Weise umgebracht wurde. Es ist von Bedeutung, dass die junge Frau Kommunistin wurde, dass sie erst in der Sowjetunion, dann in der DDR ihren Überzeugungen lebte. Ja, auch die DDR ist in diesem Roman von einer Bedeutung, die ihr der Zeitgeist abzusprechen sucht.

Das Vergangene verschwindet nicht. Zufälle regieren das Leben, an der Oberfläche, aber im Urgrund wirken stärkere Mächte.

Es wird im Roman nicht explizit, aber der Leser wird es in sich spüren. Vier Mal müssen wir um einen Menschen bangen. Und beim fünften Mal? Wirklich aller Tage Abend? Oder doch nicht?

Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend. Roman. Knaus. 283 S., geb., 19,99 €.

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