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Vorbote der Ur-Katastrophe

Im Oktober 1912 begann der erste Balkankrieg

  • Gerd Fesser
  • Lesedauer: 4 Min.

Es war das kleine Montenegro, das am 8. Oktober 1912 dem großen »Osmanischen Reich« den Krieg erklärte. Vor 100 Jahren gehörten die Balkanstaaten Makedonien, Albanien und Kosovo sowie der Norden des heutigen Griechenlands noch zu jenem Imperium, das damals bereits als »kranker Mann« am Bosporus galt. Montenegro konnte es wagen, den Türken den Kampf anzusagen, da es ein Bündnis mit Bulgarien, Serbien und Griechenland zwecks gewaltsamer nationaler Befreiung geschlossen hat. Diese erklärten denn auch am 17. Oktober gleichfalls dem »Osmanischen Reich« den Krieg. Auf türkischer Seite standen 290 000 Soldaten, Bulgarien mobilisierte 233 000 Mann, Serbien 130 000, Griechenland 80 000 und das kleine Montenegro immerhin auch 31 000.

Die Hauptlast des Kampfes trugen die Bulgaren. Ihnen standen die kampfkräftigsten Truppen zur Verfügung. Und sie errangen Sieg auf Sieg. Nach der Schlacht bei Lüle-Burgaz (28. Oktober bis 3. November) traten die türkischen Truppen einen ungeordneten Rückzug an. Am 29. Oktober begannen die Bulgaren mit der Belagerung der Festung Adrianopel (Edirne), am 15. November erreichten sie die türkische Verteidigungslinie bei Çatalca, 40 Kilometer vor Istanbul, und am 17./18. November unternahmen sie einen Großangriff zum Durchbruch. Dieser scheiterte jedoch unter schweren Verlusten. Doch auch die türkischen Streitkräfte waren angeschlagen; am 4. Dezember 1912 vereinbarten die Türken und Bulgaren einen Waffenstillstand, dem Serbien und Montenegro beitraten.

Nachdem am 29. Januar 1913 die Jungtürken, die nationaltürkische Reformpartei, die alte Regierung gestürzt und die Macht übernommen hatten, kündigten sie noch am selben Tag den Waffenstillstand auf. Ab 3. Februar wurde wieder geschossen. Gekämpft wurde um Adrianopel, Janina und Skutari. Es kam zum Stellungskrieg. Am 6. März kapitulierte Janina, am 26. März Adrianopel. Das von den Montenegrinern belagerte Skutari fiel am 23. April.

Unterdessen waren in London Friedensverhandlungen zwischen Vertretern der Balkanstaaten und des »Osmanischen Reiches« eröffnet worden. Parallel dazu tagten an der Themse die Botschafter der europäischen Großmächte, denn auch auf dem Balkan stießen die ökonomischen und militärstrategischen Interessen der damaligen beiden Machtblöcke, der Entente und des Dreibundes, die späteren Gegner im Ersten Weltkrieg, aufeinander. In dem am 30. Mai geschlossenen Friedensvertrag verzichteten die Türken auf ihr gesamtes bisheriges Territorium in Europa, mit Ausnahme eines Streifens westlich von Istanbul.

Jetzt brachen zwischen den Balkanstaaten selbst heftige Differenzen auf. Streitpunkt war die Aufteilung der eroberten Gebiete, insbesondere Makedoniens. Am 1. Juni 1913 schlossen Serbien und Griechenland eine geheime Militärkonvention gegen Bulgarien.

In der Nacht vom 29. zum 30. Juni 1913 begann der zweite Balkankrieg. Die bulgarische Armee griff ohne Kriegserklärung die serbischen und griechischen Truppen an. Der Angriff schlug fehl. In erbitterten Kämpfen drängten die serbischen und griechischen Truppen die Bulgaren zurück, die durch ihre hohen Verluste im ersten Balkankrieg noch sehr geschwächt waren. Am 10. Juli erklärte nun auch Rumänien Bulgarien den Krieg und rückte mit einer starken Armee bis vor die Tore von Sofia vor. Die gedemütigten Türken sahen eine Chance, sich zu revanchieren, und griffen in den Krieg ein, der jedoch bereits Ende Juli mit einem erneuten Waffenstillstand beendet wurde.

Der zweite Balkankrieg war, obgleich er nur vier Wochen dauerte, für die Bulgaren, Serben und Griechen mit 149 000 Toten und Verwundeten verlustreicher als der erste. Im Frieden von Bukarest (10. August) verlor das besiegte Bulgarien fast alle Gebiete, die es im ersten Balkankrieg gewonnen hatte. Obendrein musste es die Süddobrudscha an Rumänien abtreten. Serbien annektierte den Norden Makedoniens, Griechenland den Süden. Bei der Aufteilung der eroberten Gebiete ignorierten die Sieger die komplizierten ethnischen Verhältnisse, die dort bestanden.

1914 veröffentlichte die sogenannte Carnegie-Kommission, eine internationale Expertengruppe, einen 500 Seiten umfassenden Bericht, in dem nachgewiesen wurde, dass Serben, Bulgaren, Griechen und Türken in den beiden Balkankriegen gleichermaßen zahlreiche Kriegsverbrechen verübt hatten.

Die beiden Balkankriege waren ein Schritt auf dem Weg zum großen Krieg, Vorboten der »Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts«, wie der unlängst verstorbene britische Historiker Eric Hobsbawm den Ersten Weltkrieg nannte. Schon 1912/13 hatte zeitweilig die Gefahr einer Eskalation bestanden. Als Serbien sich weigerte, seine Truppen aus Albanien abzuziehen, drohte Österreich-Ungarn zwei Mal mit Krieg. Es gelang den Regierungen in Berlin und London, denen der große Waffengang noch zu früh erschien, die Ausweitung des Krieges abzuwenden. In Wien indes überwog die Neigung, mit den erstarkten Serben »abzurechnen«, wie auch umgekehrt diese in der Habsburger Monarchie nun den Hauptgegner sahen.

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