Wirkstoff: Solidarität

Mikrokrankenversicherungen bieten eine Lösung für unzureichende Gesundheitssysteme afrikanischer Länder

  • Frank Odenthal
  • Lesedauer: 7 Min.
Oft ist es ein langer Weg zu einer sicheren ärztlichen Versorgung (Straße zu einem Hospital in Ghana; Foto: Frank Odenthal). Gerade deshalb versuchen Menschen in aller Welt konkrete gesundheitspolitische Alternativen zu entwickeln. Die Veränderungen beginnen im Kleinen und strahlen darüber hinaus. Die experimend-Seiten stellen heute das System der genossenschaftlichen Mikrokrankenversicherung in Afrika, das Länder wie Ghana auf das gesamte Gesundheitswesen übertragen haben, und das Kollektiv einer Berliner Hausarztpraxis vor, in der alle den gleichen Stundenlohn erhalten.

Irgendwann kurz vor dem Ende seines Vortrags hält Kwame Agyapong für einen Moment inne und lässt seinen Blick ins Publikum schweifen. An die 30 Augenpaare sind auf ihn gerichtet. Jeder der Anwesenden scheint ihm interessiert zuzuhören, manche wirken, als hätte er sie mit seinen Worten in seinen Bann gezogen. Dabei ist das Thema eher trocken: Krankenversicherungen.

Das Besondere an dieser Szene: Bis vor zwei Jahren hatte Kwame Agyapong sein Heimatdorf in der Nähe von Tamale im staubtrockenen Nordosten Ghanas noch nie verlassen, ackerte tagein tagaus auf seiner kargen Parzelle Land, wie so viele Kleinbauern im ghanaischen Hinterland. Damals, erinnert er sich, lief er noch rot an, als er in der Gemeindeversammlung vor seinen Freunden und dem Dorfältesten forderte, endlich etwas für die Gesundheitsversorgung des Dorfes zu tun.

Heute referiert er wie selbstverständlich und ohne Redemanuskript in einem Hörsaal der Legon University vor den Toren der Hauptstadt Accra über die Vorteile und die Schwierigkeiten von Mikrokrankenversicherungen in Afrika und in seiner Heimat Ghana.

Es ist der Moment, in dem auch Gerald Leppert vom Lehrstuhl für Genossenschaftswesen der Universität Köln an den Erfolg seiner Arbeit glaubt. Als der gebürtige Erlanger im Jahr 2008 zum ersten Mal Ghana besuchte, um vor Ort zu recherchieren, war noch nicht abzusehen, ob sein Projekt jemals erfolgreich sein würde.

Sein Projekt, das ist das Projekt »Pro-MHI-Africa«, das der Kölner Lehrstuhl in Kooperation mit Universitäten in Ghana, Malawi und Botswana durchgeführt hat. Ziel war es, die Entwicklung von Mikrokrankenversicherungen zu fördern. Daten wurden erhoben, Haushalte befragt, Workshops abgehalten; hinzu kam das Werben um Unterstützung bei Politikern, Ärzten und anderen Anbietern von Gesundheitsleistungen. Grundlegende Kenntnisse von Versicherungsprinzipien sollten vermittelt werden, und auch die Dynamiken innerhalb von Selbsthilfegruppen, auf denen Mikrokrankenversicherungen aufbauen.

Im gesamten Afrika sind keine zwei Prozent der Menschen im Besitz einer Krankenversicherungspolice. Wer krank wird, muss die ärztliche Behandlung aus eigener Tasche bezahlen. Reicht das Geld nicht, ist er gezwungen, seinen Besitz zu verkaufen, der oftmals die Lebensgrundlage der gesamten Familie ist, wie Ackerland oder Rinder, ein Traktor oder eine Nähmaschine. Und er muss mitunter beträchtliche Einkommensausfälle hinnehmen, denn vor allem im ländlichen Raum sind Hospitäler manchmal Tagesmärsche entfernt.

Genossenschaftlicher Gedanke der Selbsthilfe

»Eine Krankenversicherung gilt inzwischen als unerlässlich für den Weg heraus aus der Armut«, erklärt Leppert. »Menschen, die sich mit Knochenarbeit eine Existenz aufzubauen versuchen, sind von Krankheiten und Verletzungen besonders häufig betroffen. Ihre Existenz ist stets aufs Neue bedroht, weil sie nicht krankenversichert sind.« Genau hier, so Leppert, habe das Projekt »Pro-MHI-Africa« angesetzt.

Einer Mikrokrankenversicherung liegt, wie fast allen Selbsthilfegruppen, der genossenschaftliche Gedanke zugrunde. Alleine kann man nicht bestehen, also schließt man sich zu einer Gruppe zusammen, die die Probleme und Nöte des Einzelnen fortan auf viele Schultern verteilt. Jeder zahlt einen kleinen Beitrag in einen gemeinsamen Topf; wird einer krank, wird die Arztrechnung aus diesem Topf beglichen.

Die Entwicklungen vieler afrikanischer Staaten seit der Unabhängigkeit in den Fünfziger- und Sechzigerjahren gleichen einander. Das gilt auch für das Gesundheitswesen. Im Überschwang der wiedergewonnenen Freiheit erklärte man das Gesundheitswesen zur Staatsangelegenheit und versprach eine kostenlose, also steuerfinanzierte medizinische Versorgung für alle. Und dann dauerte es eine Weile, mitunter Jahrzehnte, bis man erkannte, dass eine Gratisversorgung mit Medikamenten, mit Ärzten und Hospitälern auch auf Staatskosten nicht so einfach zu haben ist.

So war es auch in den Projektländern des Kölner Lehrstuhls: in Ghana, Malawi und Botswana. In allen drei Ländern gab es zunächst eine kostenlose staatliche Gesundheitsversorgung, zumindest theoretisch. Doch die Krankenhäuser waren schon nach kurzer Zeit in erbärmlichem Zustand. Qualifiziertes Personal war kaum vorhanden, und wer es sich leisten konnte, kaufte sich eine private Krankenversicherungspolice und ließ sich in einem der teuren Privathospitäler behandeln. »Adverse selection«, erklärt Leppert, »zurück bleiben die Armen und Schwachen, die die Mehrheit der Bevölkerung stellen.«

Dieser Zustand hat Malawi im südöstlichen Afrika seit der Unabhängigkeit 1964 fest im Griff. Offiziell gibt es eine kostenlose medizinische Grundversorgung, doch wer nicht aus eigener Tasche zuzahlt, hat keine Aussicht auf eine Behandlung. Eine Mixtur aus Korruption und Demotivation, die das öffentliche Leben in vielen Ländern Afrikas lähmt. »Als wir unser Projekt an der Universität der Hauptstadt Lilongwe vorstellten, gab es im ganzen Land nicht eine einzige Selbsthilfegruppe, die sich zu einer Mikrokrankenversicherung zusammengefunden hatte«, erinnert sich Leppert. »Wir mussten in unseren Workshops und auch bei den Gesprächen mit Regierungsvertretern buchstäblich bei Null anfangen, was die Prinzipien einer Krankenversicherung und der genossenschaftlichen Idee angeht. Und wir mussten die Menschen ermutigen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.«

Mikroversicherung »Wellness for all«

Eine ganz andere Entwicklung hat Botswana seit der Unabhängigkeit 1966 genommen, und das hat einen einfachen Grund: Diamanten. Ähnlich wie sein großer Nachbar Südafrika ist auch Botswana mit großen Diamantenvorkommen gesegnet. Dank der Einnahmen aus den Diamantenminen, die bis zu 80 Prozent der gesamten Exporteinnahmen ausmachen, zählt das Land global gesehen inzwischen zu den Staaten mittleren Einkommens und ist im afrikanischen Kontext geradezu wohlhabend.

Das staatliche Gesundheitswesen ist daher zwar grundsätzlich gut ausgestattet und leistungsfähig, doch gab es in den letzten Jahren auch hier Probleme. Die Schicht der Wohlhabenden und Besserverdienenden, die in Botswana breiter ist als anderswo in Afrika, verlangten von der Regierung in Gaborone immer wieder, das Leistungspaket der staatlichen Krankenversicherung um zusätzliche, kostspielige Behandlungen zu erweitern und den Krankenhäusern neueste Ausstattungen zur Verfügung zu stellen. Der Preis dafür war, dass sich die Regierung zur Einführung einer Gesundheitsprämie genötigt sah - mit der Folge, dass sich die untersten Einkommensschichten die Krankenversicherung nicht mehr leisten konnten. So hat sich vor sieben Jahren auch in Botswana eine erste Mikrokrankenversicherung gegründet, die mit dem Slogan »Wellness for all« um Mitglieder wirbt.

»In Botswana sind die Umstände anders als in Malawi«, erklärt Leppert. »In Malawi ist der Staat ebenso pleite wie seine Bevölkerung und kann sich eine kostenlose Gesundheitsversorgung nicht leisten. In Botswana dagegen ist es ein Problem des Überflusses.«

Leuchtendes Beispiel für den Erfolg der Idee der Mikrokrankenversicherungen ist Ghana. In dem westafrikanischen Land waren 2010 über 61 Prozent der Bevölkerung krankenversichert, eine im afrikanischen Vergleich geradezu atemberaubende Quote. Schon Ende der Achtzigerjahre, kurz nachdem sich der Staat auch hier von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung verabschiedet hatte und eine Prämie einführte, bildeten sich erste Selbsthilfegruppen. Doch das eigentlich Bemerkenswerte ist, dass der ghanaische Staat sich die Erfolge dieser ersten Mikrokrankenversicherungen zu eigen machte und das Konzept der Selbsthilfe nach genossenschaftlichem Prinzip auf das gesamte staatliche Gesundheitswesen übertrug. Seitdem gibt es über 150 Mikrokrankenversicherungen im ganzen Land. Die Prämien sind erschwinglich, das Leistungspaket kann sich sehen lassen. Und selbst in den entlegensten Regionen des Landesinneren ist die Versorgung gewährleistet.

2010 ist das Projekt »Pro-MHI-Africa« ausgelaufen, und Gerald Leppert und seine Kollegen von der Kölner Universität sind sich darüber im Klaren, dass der Erfolg der Initiative erst in Jahren zu beurteilen sein wird.

Es gebe viele Gefahren, denen sich Mikrokrankenversicherungen gegenübersehen, so Leppert, etwa Epidemien wie AIDS oder Malaria. »Viele der Selbsthilfegruppen sind zu klein. Wenn gleich das halbe Dorf an Malaria erkrankt, ist die Mikrokrankenversicherung zahlungsunfähig.«

Der Fachkräftemangel ist ein weiteres großes Problem. Wenn die Mikrokrankenversicherungen wachsen, müssen sie professionell geführt werden. »Doch wo nehmen Sie im Hinterland einen gut ausgebildeten Leiter einer Krankenversicherung her?«

Es gebe aber Grund zum Optimismus, behauptet Leppert, nämlich den Willen der Menschen, sich selbst zu helfen und ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Kwame Agyapong aus dem Nordosten Ghanas ist ein solches Beispiel. Dort hat er inzwischen die Leitung der Distrikt-Mikrokrankenversicherung übernommen.

Die medizinische Versorgung in den meisten afrikanischen Staaten ist schlecht. Auf dem gesamten Kontinent ist nur eine äußerst geringe Zahl von Menschen krankenversichert. Eine Initiative der Universität Köln bietet Hilfe zur Selbsthilfe. Pro-MHI-Africa heißt das Projekt, das die Förderung von Mikrokrankenversicherungen zum Ziel hatte. Die Akademiker besuchten dafür die drei sehr unterschiedlichen Länder Botswana, Ghana und Malawi. Die Idee der Mikrokrankenversicherung gibt es übrigens auch in der Bundesrepublik. Artabana heißen die Solidargemeinschaften im Gesundheitswesen, die sich in vielen Regionen und Städten lokal organisieren.

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